Manche Künstler lieben Blumen oder menschliche Körper, andere arbeiten sich an geometrischen Formen ab. Gego dagegen begnügte sich mit dem simpelsten, was die Malerei zu bieten hat: dem Strich. Das Kunstmuseum zeigt Arbeiten einer vergessenen Künstlerin.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Sie hatte eine besondere Leidenschaft. Manche Künstler lieben Blumen oder menschliche Körper, andere arbeiten sich an geometrischen Formen oder Farbkontrasten ab. Gego dagegen begnügte sich mit dem simpelsten, was die Malerei zu bieten hat: dem Strich. Sie malte, zeichnete, druckte und baute Objekte – aber was immer sie auch produzierte, letztlich basierte es stets auf schlichten, nackten Strichen. Trotzdem bestehe „keine Gefahr, ins Stocken zu geraten“, meinte die Künstlerin, „weil mit jeder Linie, die ich zeichne, Hunderte weitere nur darauf warten, gezeichnet zu werden.“

 

Gertrud Goldschmidt hat sich in ihrer gesamten Karriere ausschließlich der Linie gewidmet, die sie hier wellte, dort unterbrach oder zu Dreiecken verband. Das Kunstmuseum Stuttgart widmet sich nun ihren „Troncos“ und „Esferas“, den „Bichitos“ und „Tejeduaras“, wie die Künstlerin ihre Werkgruppen bezeichnete. „Line as Object“ nennt sich die Ausstellung, die Ulrike Groos und Eva-Marina Froitzheim gemeinsam kuratiert haben und die eine kleine Entdeckung ist: Denn Gertrud Goldschmidt – die sich seit Kindertagen Gego nannte – ist eine der bekanntesten Künstlerinnen Lateinamerikas, in Deutschland aber bis heute kaum bekannt.

Dabei ist Gego 1912 in Hamburg geboren worden und hat in Stuttgart studiert. Sie stammte aus besserem jüdischem Hause. Der Familie gehörte das Bankhaus J. Goldschmidt. Gego, die „völlig unbeschwert aufgewachsen ist“, studierte an der Technischen Hochschule bei Paul Bonatz Architektur. Bonatz hat sie geprägt – und er war es auch, der seine jüdischen Studenten drängte, das nationalsozialistische Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. 1938 löste Gego, die „nie in Synagoge oder Tempel gewesen ist“, den Familienbesitz auf und verließ als letzte der Goldschmidts die deutsche Heimat. „Ich ließ die Couch und den Hocker aus meinem Zimmer von der Wohlfahrt abholen, schloss das Haus ab und warf (vor mir selber ostentativ) den Hausschlüssel in die Alster!“

Linien mit Dynamik und Kraft

„Autobiografie einer Linie“ nennt sich eine Radierung auf gefaltetem Papier aus dem Jahr 1965. Es ist eine Linie, die ihren Weg geht, die sich hier teilt, dort verliert, über Gelenkrollen umgeleitet wird – und doch vorwärts strebt. Gegos Arbeiten entziehen sich weitgehend einer inhaltlichen Deutung. Aber sie nimmt die Linie doch ungemein ernst, als sei sie ein zu formendes Etwas, ein Subjekt mit eigener Dynamik und Kraft – und nicht nur ein Element innerhalb einer Komposition. „Ich entdecke den Charme der Linie an und für sich“, sagte Gego, „sowohl der Linie im Raum als auch der gezeichneten Linie auf einer Fläche.“

Es herrscht beinahe sakrale Andacht im Kunstmuseum. Zart und leicht schweben die feinen Linien auf weißem Grund. Hier beginnen sie sich zu wellen und kräuseln, dort entspannen sie sich. Gego ist eine der wenigen Frauen, die sich dem Spiel mit geometrischen Formen widmet. Anders als bei vielen Kollegen sind ihre konkreten Konstruktionen aber nicht dogmatisch und oberlehrerhaft mit Zirkel und Lineal durchgearbeitet, sondern sie durchweht poetische Schönheit und Beschwingtheit.

Manchmal meint man fast Ironie herauslesen zu können, etwa wenn die an gebürstetes Haar erinnernden Linien sich plötzlich renitent der Ordnung verweigern und brüchig werden, wenn starre Systematik und Störung effektvoll aufeinanderprallen. Aus mitunter schäbigen Materialien, gebogenem Draht, Eisenspiralen und Objekten, die aus elektrischen Anlagen stammen könnten, hat Gego ulkige Skulpturen gebaut, die mechanische Geräte kauziger Erfinder sein könnten – und doch sehr fein und fragil mit Licht und Schatten spielen.

1939 begann Gego ein neues Leben in Caracas, sie heiratete, bekam zwei Kinder und arbeitete als Architektin. Später trennte sie sich von ihrem Mann, lernte den Grafiker Gerd Leufert kennen – und erst jetzt, mit über vierzig, begann sich Gego der Kunst zu widmen, machte erste Zeichnungen, Aquarelle und Holzschnitte. Bereits diesen frühen Arbeiten sieht man die sichere, vom Bauzeichnen geschulte Hand an.

Gego war eine sorgfältige Handwerkerin. Gerade die Objekte basieren auf präziser Feinarbeit. „Vibration in Schwarz“ (1957) ist ein an der Decke hängendes Konstrukt aus Aluminium. Das geschlitzte Metall, das an die Lamellen eines Lüftungsschachts erinnert, wurde wie beim Möbiusband gebogen – und der dreidimensionale Körper wirft einen sehr präzisen Schatten an die Wand.

„Sphären“ nennen sich andere Raumobjekte aus Stahldraht aus dem Jahr 1977, die wie Himmelskörper im Kubus des Kunstmuseums schweben, wobei es Gego weniger um Assoziationen, sondern um mathematische Fragestellungen ging. Sie verlieh den schwerelos wirkenden Kugeln Stabilität, indem sie den Draht zu einem Netz aus Drei-, Vier- und Fünfecken bog. Gego mochte nicht von Skulptur sprechen, weil ihre eigenwilligen, hängenden oder stehenden Schöpfungen kein handfestes Volumen besitzen, sondern nur Raum definieren, Leere begrenzen. Sie interessierte sich nicht für plastische Körper, sondern für Transparenz und Leichtigkeit.

Ulrike Groos, die Direktorin des Kunstmuseums, wollte Gego schon lang ausstellen. Finanzierbar wurden die Leihgaben aus dem Ausland, weil auch die Kunsthalle Hamburg kürzlich Gego gezeigt hat im Zusammenspiel mit Eva Hesse. Im Kunstmuseum hat sie nun eine neue Partnerin bekommen: Luisa Richter. Die noch lebende Malerin wurde 1928 in Besigheim geboren und zog 1955 nach Caracas – und war dort wie Gego Professorin am Instituto Diseno. Obwohl Luisa Richter auch nach ihrer Übersiedelung stets Teile des Jahrs in Besigheim verbrachte, repräsentierte sie 1979 Venezuela bei der Biennale in Venedig.

Luisa Richter hat bei Willi Baumeister studiert, was man ihren frühen Bildern allzudeutlich ansieht. In Südamerika entwickelte sie abstrakt-geometrische Flächenräume, bei denen sie reale Vorlagen zersplitterte wie beim Blick durch ein Prisma. „Rückkehr“ von 1978 etwa lässt Reste eines Stadtpanoramas ahnen, das sich im Wasser zu spiegeln scheint. In den sechziger Jahren beginnt sie mit Collagen, bei denen sie Zeitungsausschnitte und Fotografien, aber auch Pläne ihres Vaters verwendet, der Kreisbaumeister in Besigheim war.

Luisa Richter ist malerisch, Gego dagegen die kühle Konstrukteurin. Richter befreit sich zwar von der Gegenständlichkeit, aber arbeitet inhaltlich, was Titel wie „Fragmentarischer Bericht über Theseus“ verraten.

Im Vergleich ist Gego die interessantere und konsequentere Künstlerin, auch wenn sich in ihrem Spätwerk manchmal Gegenständliches in ihre Bilder einschleicht und sie zaghaft versucht, das ewige Weiß und Schwarz dezent durch Farbe aufzufrischen. Sie beginnt, winzige bedruckte Papierstreifen wie Stoff ineinander zu verweben – aber beweist auch hier, dass nicht nur eine schlichte Linie enorme Kraft besitzen kann, sondern auch das Nichts. Sie selbst sagte es so: „Ich entdecke, dass manchmal das, was zwischen den Linien ist, genauso wichtig ist wie die Linie selbst.“