Nach der Veröffentlichung der Armstrong-Akten beginnen die Aufräumarbeiten. Und der ehemalige Ullrich-Betreuer Rudy Pevenage fühlt sich von dem US-Amerikaner betrogen: „Ich war nur ein kleiner Dieb im Vergleich zu den Gangstern um Armstrong.“

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Jan Ullrich hat ja bei seinem Rücktritt 2007 diesen einen bemerkenswerten Satz gesagt. „Ich habe niemanden betrogen.“ Es ist das Konzentrat einer Ära, in der alle betrogen haben und, so die Systemlogik, deshalb auch alles ziemlich fair gewesen ist – so konnte man das, so musste man das verstehen. Fairplay à la Radsport. Wenn nun nach den Veröffentlichungen der US-Antidopingbehörde und dem in den nächsten Tagen erwarteten Verdikt des Weltradsportverbandes UCI unter Umständen die Tour-de-France-Titel des Lance Armstrongs neu zu vergeben sind, hat Jan Ullrich vor diesem Hintergrund auch schon längst abgewinkt. Er wisse, wie das Ergebnis auf der Straße war.

 

Nun hat sich aber in der Szene doch noch einer gefunden, der sich betrogen fühlt: Rudy Pevenage. Der war einst sportlicher Leiter des Rennstalls Telekom sowie später persönlicher Betreuer von Jan Ullrich. Als solcher hat er, wie er selbst zugegeben hat, die Reisen seines Schützlings zu dem spanischen Dopingarzt Eufemiano Fuentes organisiert. Nun aber ist der Belgier zutiefst empört: „Ich glaube, man kann jetzt sagen, dass ich nur ein kleiner Dieb im Vergleich zu den Gangstern um Armstrong war. Als ich am Mittwoch vom Bericht hörte, habe ich ihn vier Stunden lang gelesen. Ich war erschrocken, wie weit US Postal gegangen ist“, sagte Pevenage.

Die auf der Internetseite http://cyclinginvestigation.usada.org veröffentlichten Dokumente sind ein Schwarzbuch der Ära Armstrong. Hunderte von Seiten, die ein präzises Bild eines perfiden Systems aus Betrug und auch Klüngelei mit der UCI darlegen. Es gruselt einen, wenn man liest, dass ein Mann auf dem Motorrad hinter dem Feld herfuhr und nach Rennende Epo bei US Postal ablieferte. Oder in Teambussen Transfusionen vorgenommen wurden. Oder wie die Fahrer Epo in Thermoskannen bunkerten. Es sind viele große und kleine Details, die zusammen ein fürchterliches Sittengemälde ergeben.

Epo neben der Milch im Kühlschrank

Tyler Hamilton etwa erzählt, wie er einmal zu Hause bei Lance Armstrong und dessen Frau Kristin fragte, ob er sich Epo borgen könne: „Lance führte mich zum Kühlschrank, wo das Epo neben der Milch stand.“ Wie sorglos man war und wie sehr das Schuldbewusstsein gen null ging, beschreibt eine andere Episode: der Teamgefährte David Zabriskie hatte Jimi Hendrix’ Klassiker „Purple Haze“, benannt nach einer LSD-Marke, in einen Epo-Song umgedichtet und damit für Gelächter im Team um Chef Johan Bruyneel gesorgt: „Epo in my vain“, lautete die erste Zeile (statt: „Purple Haze all in my brain“). Über die verwendeten Mittel wurde mehr oder weniger verschlüsselt gesprochen. Eine spezielle Testosteronmischung wurde etwa „oil“ genannt, für Epo musste Edgar Allan Poe dran glauben: Einige nannten das Blutdopingmittel „Poe“ oder „Edgar“.

Für Pevenage ist Armstrong der Spiritus Rector des Dopings im Radsport, der nach dem Festina-Skandal 1998 bereit für eine Läuterung gewesen sei. „Wir haben gesehen, dass bei denen nichts echt war. Wir haben gesehen, dass Armstrong übermenschlich geworden war. Was sollten wir machen, ihn sich amüsieren lassen, weil ihn keine Kontrolle überführen konnte?“ Sie alle, so Pevengae, seien Opfer von Armstrong gewesen – wobei die Suche nach Zaubertränken in der Branche so alt ist wie der Radsport selbst.

Panscherei professionalisiert

Johan Bruyneel, aktuell Teamchef bei Radioshack, wollte in Armstrong einen Mythos schaffen, kreiert hat er dazu ein monströses System. Mit Armstrong hat er, wenn man so will, Maßstäbe gesetzt. Das Duo hat die alte Panscherei professionalisiert, was – da hat Pevenage recht – alle anderen zwang, den eigenen Betrug ebenso zu verfeinern. Das geschah auch mit Industriespionage. Das Team Telekom hat etwa 2001 den Amerikaner Kevin Livingston auch darum verpflichtet, um an Informationen über das System bei US Postal heranzukommen – so hat es Ex-Profi Jörg Jaksche gegenüber den Behörden berichtet.

Und doch fragen sich viele: Hat Lance Armstrong den Heiligen Gral des Dopings gefunden? Was machte ihn so viel besser? Wie konnte er so dominant sein? Levy Leipheimer hat dazu ausgesagt: „Ich hatte eine Diskussion mit Johan, in der er mir erzählt hat, dass er regelmäßig gefragt wurde, wie Lance dopt und ob es eine mysteriöse Substanz gibt, die nur Lance hat. Johan sagte jedoch, dass Lance die gleichen Sachen benutzt wie jeder andere auch.“