Großprozesse wie die Black-Jacket-Verhandlung lähmen die Justizarbeit am Landgericht. Ein kommender Schwerpunkt ist Internetkriminalität.  

Stuttgart - Das hat es früher nicht gegeben: "Die Großverfahren häufen sich", sagt Lars Kemmner, Presserichter am Landgericht. "Nehmen Sie die Black Jackets: seit 107 Prozesstagen wird wegen versuchten Mordes gegen 21 mutmaßliche Mitglieder der Jugendbande verhandelt."

 

Das Verfahren bindet Richter, Schöffen und Verteidiger an zwei Tagen pro Woche, was die Strafabteilung an ihre Belastungsgrenzen führt: zeitweise war jeder dritte von rund 60 Strafrichtern aus der Zuteilung zu neuen Prozessen herausgenommen. Eigens gebildete Hilfsstrafkammern wurden notwendig - und die Terminfindung bei anderen Prozessen wurde erschwert.

Das Verfahren ist bei Weitem nicht das einzige Beispiel dieser Art. Im Zusammenhang mit dem sogenannten Goldraub auf Ludwigsburger Gemarkung wird seit mehr als 40 Tagen gegen fünf Angeklagte verhandelt; die Unterlagen zum Menschenhandel-Prozess um Flatratebordelle wie den Fellbacher Pussyclub mit zehn Angeklagten füllen mittlerweile mehr als 150 Leitz-Ordner; und die Massenschlägerei in der Nürtinger Musiknacht wird zurzeit in einem dritten Verfahren aufgerollt. Das hat teilweise zu Engpässen in der Saalbelegung geführt - und zu einem regelrechten Auflauf von bis zu 100 Wachtmeistern und Vollzugsbeamten, die mehr als 40 angeklagte Gefangene beaufsichtigten.

Stuttgart gehört bundesweit zu den schnellsten Gerichten

In Stuttgart häufen sich die Großverfahren unter anderem, weil die hiesige Staatsanwaltschaft einen Schwerpunkt in der organisierten Kriminalität und bei Wirtschaftsstraftaten belegt. Bisher wenig Erfahrung hat man dagegen mit der Internetkriminalität gemacht; vor der 18. Kammer ist derzeit lediglich ein Verfahren gegen mehrere Beschuldigte anhängig, die online Kontodaten ausgespäht haben sollen. "Das sind ganz neue Formen der Kriminalität, bei denen die Täter nicht selbst auftreten sondern virtuell. Wir müssen erst sehen, wie sich das auf die Beweisführung auswirkt", sagt Richter Kemmner.

Das noch nicht terminierte Strafverfahren dürfte eines von rund 1500 werden, die in diesem Jahr am Landgericht verhandelt werden - Tendenz sinkend. Bei den Zivilprozessen dagegen bleibt die Zahl nahezu konstant. 14000 waren es im Jahr 2010. "Wir legen großen Wert auf kurze Verfahrenszeiten", sagt der Präsident des Landgerichts, Franz Steinle. Mit knapp fünf Monaten in Zivilsachen gehört Stuttgart zu den schnellsten Gerichten bundesweit, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen: der längste Rechtsstreit, der in Stuttgart je verhandelt worden ist, ging 2010 nach 20 Jahren zu Ende (siehe Infobox).

Auch der Prozess um den Umbau der Beccalaere-Kaserne in Esslingen geht ins zehnte Jahr; 2002 hat der Generalunternehmer wegen mutmaßlicher Baumängel gegen den Bauträger geklagt. Mittlerweile liegen bereits die Gutachten von sieben Sachverständigen vor, immerhin: ein Ende zeichne sich ab, heißt es.Dabei sind die 164 Richter am Landgericht Stuttgart nicht nur zu Tageszeiten aktiv. Der nächtliche Bereitschaftsdienst ist dafür da, Randalierer in Gewahrsam nehmen zu lassen oder Blutalkoholtests richterlich zu genehmigen. "2010 gab es gehäuft Situationen, in denen drei Richter gleichzeitig bestellt waren", sagt Lars Kemmner. Das war etwa der Fall während des

Zahlen und Rekorde

Geschichte: Das Landgericht Stuttgart gibt es seit 1879. Aus diesem Jahr stammte auch das palastartige Justizgebäude, das den Bomben des Zweiten Weltkriegs 1944 zum Opfer fiel. Seit 1953 steht der heutige Komplex an der Urbanstraße.

Zuständigkeit: Der Gerichtsbezirk umfasst den Mittleren Neckarraum und die Landeshauptstadt mit insgesamt 2,1 Millionen Einwohnern. Daran gemessen ist das Landgericht Stuttgart nach dem in Berlin das zweitgrößte Deutschlands.

Verfahren: Mehr als 1600 Strafsachen wurden 2010 verhandelt. 45-mal ging es um (versuchten) Mord oder Totschlag. Außerdem gab es annähernd 14.000 Zivilverfahren.

Rekord: Das wohl längste Verfahren in der Geschichte des Gerichts ging 2010 nach 20Jahren zu Ende. Geklagt hatte ein Unternehmer, der Kunststofffenster im Holzdesign lackierte. Die 7000 europaweit verbauten Rahmen verfärbten sich aber mit der Zeit. Der Rechtsstreit kostete mehrere Hunderttausend Euro und endete mit einem Vergleich.