Eine andere Perspektive auf Stuttgart gibt es zum Beispiel im städtischen Lapidarium an der Mörikestraße, das mit seiner vergangenen Pracht fasziniert.

S-Süd - Reisen ist auch im zweiten Corona-Jahr noch schwierig, wie also den Sommer genießen? Zeichner Thomas Bickelhaupt und unsere Mitarbeiterin Susanne Müller-Baji haben mit dem städtischen Lapidarium die ideale Stadtoase entdeckt.

 

Das Lapidarium ist einer dieser perfekten Orte: Still und so zeitlos, dass die eigenen Sorgen flüchtig und klein wirken. Man kann mit dem 43er Bus bis zur Haltestelle Mörikestraße herauffahren, wer aber wirklich Abstand von den Dingen braucht, dem sei empfohlen, zu Fuß hinaufzugehen, vorbei an immer opulenteren Bürgerhäusern und Villen, die einen Eindruck davon vermitteln, wie prachtvoll Stuttgart einmal gewesen sein muss. Denn das kann man schon mal vergessen, wenn der Sommer verregnet, Corona längst noch nicht vorbei ist, der Verkehr kollabiert, die S-Bahn in den Sommerschlaf geschickt wird und zu allem Überfluss auch noch die Bahn streikt.

Gustav Siegle ließ die Villa erbauen

Das damalige, glanzvollere Stuttgart gehörte Männern wie Gustav Siegle (1815 – 1863): Der hatte von seinem Vater eine kleine Farbenfabrik geerbt, deren Produkte er weiterentwickelte und in die Badische Anilin- und Soda-Fabrik einbrachte. Die hatte damals ihren Sitz in Stuttgart und ist heute besser unter der Abkürzung BASF bekannt. 1889 löste der Großindustrielle seine Verbindung mit dem Konzern und gründete im zu dieser Zeit noch eigenständigen Feuerbach die auf Mineral- und Lackfarben spezialisierte Firma G. Siegle & Co, die dann übrigens lange Jahre den Pariser Eiffelturm rostsicher machte.

Warum das im Zusammenhang mit dem Lapidarium interessiert? Niemand anderer als Gustav Siegle ließ die Villa in der Mörikestraße 24 erbauen, in deren Garten sich das Lapidarium heute befindet. Es handelte sich wohl um ein Geschenk zur Vermählung seiner Tochter Margarete mit Carl von Ostertag-Siegle, der dann den Garten nach dem Vorbild italienischer Terrassengärten anlegen und im unteren Wandelgang seine bis heute bestehende römische Antikensammlung unterbringen ließ.

Drei Jahrzehnte währender Dornröschenschlaf

1950 erwarb die Stadt die Anlage und richtete auf Initiative des Journalisten und Stadthistorikers Gustav Wais und des Denkmalpflegers Wilhelm Speidel hier ein Lapidarium mit den Skulpturen und Fassadenüberresten zerstörter oder abgerissener Stuttgarter Bauten ein. Schon zuvor hatte es ein Lapidarium im Kreuzgang an der Hospitalkirche gegeben, das aber bei den Bombenangriffen im September 1944 weitgehend zerstört wurde. Auf Wais’ Betreiben hin wurde die im Zweiten Weltkrieg stark angewachsene Zahl an künstlerisch wertvollen Trümmerteilen katalogisiert und an den heutigen Standort verbracht. Als er 1961 starb, versank der Garten freilich in einen drei Jahrzehnte währenden Dornröschenschlaf, und es ist dem Engagement des Freundeskreises des Lapidariums zu verdanken, dass es heute wieder Besuchern offen steht.

Erwacht der kalte Stein nachts zu neuem Leben?

So aber erzählen Portalfragmente etwa von einem der ältesten Wohnhäuser der Landeshauptstadt, dem Alten Steinhaus aus der Zeit um 1286, oder von der großen Mühle in Berg. Die Nymphengruppe nach Heinrich Dannecker und die Marmor-„Luna“ nach Adolf von Hildebrand geben sich ein Stelldichein. Und man fragt sich unwillkürlich, ob der kalte Stein nicht vielleicht zu neuem Leben erwacht, sobald das Steinlager – denn nichts anderes bedeutet Lapidarium – des Nachts seine Pforten schließt. Schriftsteller Hermann Lenz hat 1983 über das Lapidarium geschrieben: „Mich zieht dieser abgeschiedene Garten mit seinen Steintrümmern wie kein anderes Museum in die Vergangenheit zurück, wahrscheinlich, weil das Ewige (denn Gras, Baum, Büsche und rieselndes Wasser werden uns alle überleben) dicht neben dem Vergänglichen steht. Und während du weitergehst, dich niedersetzt neben Standbildern, an die Blätter rühren, ist es als ob du dir selbst begegnest.“

Adresse und Öffnungszeiten

Ausstellung
Das Lapidarium, Mörikestraße 24, hat voraussichtlich bis 26. September geöffnet: Mittwochs, samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr. Derzeit ist außerdem die Freiluft-Ausstellung „Ein Kuss ist ein Kuss ist ein Kuss“ von Fotograf Alwin Maigler zu sehen.