Durch Lawinen im Tiroler Paznauntal starben vor 20 Jahren 38 Menschen, darunter zwölf Kinder. Das Unglück von Galtür machte weltweit Schlagzeilen. Es ist ein Beispiel für die Unberechenbarkeit der Natur. Alle zerstörten Häuser galten als nicht gefährdet.

Galtür - „Hier Galtür. Es ist ein Mords-Unglück.“ Der Alpinpolizist Alfons Walser rang um Worte, um seiner Einsatzzentrale die Katastrophe zu beschreiben. Mit kaum vorstellbarer Urgewalt war kurz nach 16 Uhr eine Staublawine in den Tiroler Skiort Galtür gedonnert, hatte Häuser zu kleinen Bruchsteinen zermalmt, andere Gebäude schwer beschädigt, Straßen und Wege unter einem bis zu acht Meter hohen Lawinenkegel begraben. Eltern verloren ihre Kinder, Kinder wurden zu Waisen und Halbwaisen.

 

31 Menschen starben am 23. Februar 1999. Sie erstickten im betonharten Schnee, der viele Häuser bis zur Zimmerdecke aufgefüllt hatte, oder erlitten tödliche Verletzungen. Einen Tag später verschüttete eine Lawine den benachbarten Weiler Valzur, wo sieben Menschen ums Leben kamen.

Wochenlanger Schneefall

Auch 20 Jahre danach ist das Schnee-Inferno von Galtür trotz aller Fortschritte im Lawinenschutz ein Beispiel für die Unberechenbarkeit der Naturgewalten. „Wenn es wie damals drei bis vier Wochen durchschneien würde, wird es wieder Probleme geben“, ist sich Rudi Mair, Leiter des Tiroler Lawinenwarndiensts, sicher. Auch damals war er dabei. Vom 27. Januar bis zum 24. Februar 1999 schneite es in Teilen der Alpen fast pausenlos, teils lag die sechsfache Schneemenge des 100-jährigen Mittelwerts. Das diesjährige Schneechaos im Januar war fast harmlos dagegen. Allein in Tirol waren 1999 wegen gesperrter Straßen 130 000 Menschen von der Außenwelt abgeschnitten, in der Schweiz waren es etwa 100 000.

In dem seit dem 17. Februar eingeschneiten Galtür sei die Stimmung noch entspannt gewesen, erinnert sich Bürgermeister Anton Mattle. „Es hat nie irgendeine Art von Lagerkoller gegeben.“ Fernsehbilder zeigen aber auch viele wartende Menschen, die auf einen Transport per Hubschrauber aus dem Tal hoffen. Zur Unterhaltung der Gäste gab es Programm - am Unglückstag ein Fassdaubenrennen am Dorfplatz. Fassdauben sind gebogene Fassbretter, die eine ähnliche Form wie richtige Ski haben.

Als wenn mit Schnee beladene Lkw mit Tempo 300 fahren

Kaum war das vorbei, ging es los. „Es wurde dunkel, an den Fenstern klebte plötzlich der Schnee“, so Mattle, der an seinem Schreibtisch im Gemeindeamt saß. Einige Momente später folgte dem Staub der Lawine der zerstörerische Teil der Schneewalze. 120 000 bis 160 000 Tonnen Schnee machten alles nieder, was im Weg stand. „Das sind 3000 bis 4000 mit Schnee beladene große Lastwagen, die mit Tempo 300 durch den Ort rasen“, veranschaulicht Lawinenexperte Mair das Horrorszenario.

Zwischen Leben und Tod lagen nur wenige Meter. „In einem Haus wurden zwei Frauen in einem Raum vom Schnee begraben, im verschonten Zimmer nebenan brannte noch die Kerze“, sagt Mattle. Die Wucht des Schnees habe in einem Gebäude das erste Stockwerk glatt herausgeschossen, das Dachgeschoss sei auf das Erdgeschoss gekracht, so Mair. Kinder, die gerade im Freien spielten, hatten keine Chance. Insgesamt kamen in Valzur und Galtür zwölf Kinder ums Leben. 21 der 38 Opfer stammten aus Deutschland.

Dramatisch auch, dass die Bewohner und Gäste zunächst auf sich allein gestellt waren. Wegen des Schneetreibens und der hereinbrechenden Nacht konnten Bergungskräfte erst nach rund 15 Stunden eingeflogen werden. Mit dem Mut der Verzweiflung gruben die Menschen nach möglichen Opfern. Insgesamt 22 Verschüttete wurden lebend geborgen, der letzte drei Stunden nach dem Unglück. Unter den Gästen waren Ärzte, die ein Notlazarett einrichteten.

Keine Lawine seit Jahrhunderten

Die Katastrophe zerstörte oder beschädigte knapp 30 Häuser und Höfe. Sie alle lagen nicht in einer Gefahrenzone. Seit Jahrhunderten war keine Lawine vom 2700 Meter hohen Grieskogel die 1100 Höhenmeter hinab bis nach Galtür gestürzt. „Gefahrenzonenpläne orientieren sich an der Lawinenchronik“, sagt Mair. Die Geschichte spielte dem 700-Seelen-Ort einen bitteren Streich.

Als sich das Wetter besserte, wurde die größte Luftbrücke in der Geschichte Österreichs aufgezogen. Insgesamt 42 Hubschrauber aus Österreich, Deutschland, den USA und Frankreich transportierten laut späterer Bundesheer-Bilanz teils im Minutentakt 18 000 Menschen - aus Galtür und dem ebenfalls eingeschneiten Ischgl. Bei ersten Interviews konnte manch traumatisierter Urlauber seine Tränen nicht zurückhalten. Die Presse, rund 400 Journalisten aus aller Welt waren in die zum Krisenzentrum umfunktionierte Kaserne nach Landeck gekommen, durfte zunächst nicht ins Katastrophengebiet.

Die hohe Politik musste auf einen Vor-Ort-Termin ganz verzichten. Der Tiroler Ministerpräsident Wendelin Weingartner (ÖVP) ließ die Wiener Regierungsspitze nicht nach Galtür. „Die Politiker brauchen nicht hineinfliegen, weil sie ja sicher nicht die besten Schneeschaufler sind“, erinnerte er sich in einer ORF-Dokumentation.

Die Wunden von damals sind nach Überzeugung von Mattle weitgehend geschlossen. Den Ort schützten bereits seit der Jahrtausendwende unter anderem zwei große massive Steinwälle. 2003 seien die Gästezahlen nach der lawinenbedingten Delle wieder auf dem üblichen Niveau gewesen. Die besondere Leistung sieht der 55 Jahre alte Bürgermeister darin, dass das Unglück die Menschen zusammengeschweißt habe. Auch viele der Hinterbliebenen aus Deutschland, den Niederlanden und Dänemark suchten den Ort immer wieder auf. „Trotz oder gerade wegen des Unglücks sind viele Freundschaften entstanden.“