Vor 60 Jahren hat die erste Werkstatt der Lebenshilfe Stuttgart im Vaihinger Stadtteil Rohr ihren Betrieb aufgenommen. Das Angebot war stark nachgefragt, die Lebenshilfe wuchs und zog mehrfach um. Vieles hat sich seither geändert – in den Werkstätten und in der Gesellschaft.

Manteldesk: Sandra Hintermayr (shi)

Inge Fabi ist eine der ersten Beschäftigten der Lebenshilfe-Werkstätten gewesen. 1962 kam sie zur Lebenshilfe. Zunächst war sie in der Werkstatt an der Silberburgstraße beschäftigt, „ich habe Knöpfe angenäht“, erzählt sie. Nach einem halben Jahr zog sie nach Rohr, verrichtete dort „Kabelarbeiten“, wie sie sagt, für die Firma Bauknecht. Die kleine Werkstatt an der Schönbuchstraße 40 war schlicht, provisorisch. „Sein Essen musste man selber mitbringen“, erinnert sich Inge Fabi. Ein warmes Mittagessen gab es folglich nicht. Später halfen Mütter aus, machten das mitgebrachte Essen der Beschäftigten mittags warm.

 

Früher galten Menschen mit Behinderung als bildungsunfähig

Das Angebot der Lebenshilfe Stuttgart war 1962 ein Novum – vorher gab es für Menschen mit Behinderung kaum Möglichkeiten, einer Arbeit nachzugehen. Die Werkstätten waren gefragt. „Der Bedarf stieg rasant“, sagt Eva Schackmann, die Sprecherin der Lebenshilfe. Die Folge waren mehrere Umzüge an verschiedene Standorte in der Stadt. 1982 wurde die Werkstatt in Vaihingen an der Jurastraße bezogen, ebenso die am Löwentor.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich vieles geändert, in der Arbeit mit den Menschen, aber auch in der Gesellschaft. „Wenn man heute durch die Werkstätten geht, kann man sich kaum vorstellen, dass es das einmal nicht gegeben hat“, sagt Eva Schackmann. In den 60er Jahren seien Menschen mit Behinderung weniger sichtbar gewesen. Das sei auch auf die Zeit des Nationalsozialismus zurückzuführen, als Menschen mit Behinderung vielfach interniert und umgebracht wurden. Auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich viele Eltern nicht getraut, ihre Kinder mit Behinderung in der Öffentlichkeit zu zeigen. „Es herrschte das Denken, Menschen mit Behinderung sind bildungsunfähig“, sagt Eva Schackmann.

Menschen mit Behinderung sind sichtbarer geworden

In den 60er Jahren sei ein Aufbruch erfolgt, Angebote wurden geschaffen. In den 70ern wurden die Werkstätten professioneller. „Mit besseren Maschinen konnten wir mehr leisten“, sagt Rolf Umbeer, der 1974 als Arbeitserzieher bei der Lebenshilfe angefangen hatte. Die Suche nach Partnern, die die Produkte der Werkstätten abnahmen, sei nicht immer einfach gewesen. Man habe das Vertrauen der Firmen gewinnen müssen. „Wir mussten erst überall erklären, was Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind und was wir können“, sagt Umbeer.

Dadurch, dass nicht mehr alle Beschäftigten mit Fahrdiensten in die Werkstätten gebracht wurden, sondern sich auch mit Bussen und Stadtbahnen auf den Weg machten, wurden Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft präsenter. „Die Menschen mussten den Umgang mit unseren Leuten auch erst lernen“, sagt Umbeer.

Begabungen finden und fördern

Heute legt die Lebenshilfe viel Wert auf die Qualifizierung ihrer Werkstattbeschäftigten, um sie, wann immer möglich, am ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. So wie Ramona Wurzer. Die junge Frau arbeitet bei der Lebenshilfe in der Hauswirtschaft, „und am Wochenende in einer Cateringfirma“, sagt sie. Das gefalle ihr, trotz des zusätzlichen Arbeitsaufwands.

Innerhalb der Werkstätten sind die Arbeitsbereiche vielfältig. Die einen schreinern und montieren, andere bedrucken Grußkarten, wieder andere walzen Nudeln, arbeiten mit Keramik oder gärtnern. Jeder Mensch hat seine Begabung, man muss sie nur finden und fördern, sagt Eva Schackmann. Ausprobieren gehöre dazu, wie bei Marion Richter zum Beispiel. Sie ist seit 1983 bei der Lebenshilfe und war in verschiedenen Gruppen, vom Metallwesen bis zur Hauswirtschaft. Sie sagt: „In den Werkstätten sind alle gleich, aber auch draußen werden wir heute besser behandelt.“ Mit draußen meint sie die Gesellschaft. In immer mehr Bereichen werden Räume für Begegnung geschaffen, zum Beispiel in den Bistros der Lebenshilfe. „Der Kontakt wird selbstverständlich“, sagt Eva Schackmann. Sie wünscht sich dennoch, dass Menschen mit Behinderung noch sichtbarer werden und dass sie mehr Chancen bekommen zu zeigen, was sie können.

Das Bundesteilhabegesetz und die UN-Behindertenrechtskonvention sind die aktuellen Herausforderungen für die Lebenshilfe. Es gehe unter anderem darum, die Beschäftigten so zu qualifizieren, dass sie am ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen können, aber auch darum, Menschen mit Behinderung mehr Teilhabe und Selbstständigkeit zu ermöglichen, etwa, indem stationäre Wohnangebote zu ambulanten umgewandelt werden, sagt Reinhard Bratzel, der Vorsitzende der Lebenshilfe Stuttgart.