Das Rote Kreuz in Gerlingen vertreibt jetzt als Vorreiter im Landkreis Ludwigsburg Notfalldosen. Darin hinterlassen Menschen unter anderem wichtige Angaben zu ihrem Gesundheitszustand. Skeptiker bezweifeln den Nutzen.

Gerlingen - Atemnot, Schlaganfall, Herzinfarkt: In eine Notlage kann jeder geraten. Kommt der Rettungsdienst künftig in einen Gerlinger Haushalt, stößt er an der Tür vielleicht auf einen Aufkleber des Roten Kreuzes (DRK). Er verweist auf die Rotkreuzdose im Kühlschrank. In dem Plastikgefäß ist ein Zettel mit „allen lebenswichtigen Informationen für Notlagen“, sagt Thilo Lang. Der Vorsitzende des Gerlinger DRK-Ortsvereins ist der Mann, der die Notfalldose in den Landkreis holte.

 

Die Idee: Auf einem Datenblatt macht eine Person Angaben zum Hausarzt, zu Kontaktpersonen, Allergien, Medikamenten oder Vorerkrankungen wie Diabetes. Die Infos können den Ersthelfern, die in der Regel zu zweit oder dritt kommen, einen Hinweis geben, warum es jemandem schlecht geht, oder was sie nicht spritzen dürfen, weil sich Wirkstoffe nicht vertragen. Auch die Blutgruppe kann man eintragen, ebenso, wo Patientenverfügung oder Organspendeausweis sind. Der Kühlschrank ist ein zentraler Ort.

„Mit der Dose kann man sich auf Notfälle gezielt vorbereiten“, sagt Thilo Lang. Da könne der Patient meist die oft lebenswichtigen Fragen wie nach der Blutgruppe oder Unverträglichkeiten nicht mehr beantworten. Weil er bewusstlos ist oder aufgelöst. Angehörige seien nicht immer da – und selbst die wüssten nicht immer Bescheid. Lang sagt, dass sich die Dose für viele eigne: Senioren, Kranke, Alleinstehende, Kinder. Im Idealfall füllt der Patient das Faltblatt mit dem Hausarzt aus. „Die Daten müssen lesbar und aktuell sein“, betont Lang. Nur so könne die Dose Leben retten. Für Notfälle unterwegs könne man das Blatt kopieren.

In Gerlingen stehen Interessierten zunächst 500 Dosen kostenlos im Rathaus und beim DRK zur Verfügung. Die Kosten von 1000 Euro teilen sich Ortsverein und Bürgerstiftung. In der Stadt informiere man umfassend. Als Beisitzer im DRK-Kreisvorstand will Thilo Lang auch den 41 anderen Ortsvereinen im Landkreis die Dose schmackhaft machen.

Der Bedarf ist offenbar riesig

Bundesweit sind derweil schon rund 100 000 Rotkreuzdosen im Umlauf, darunter im Kreis Esslingen. Ihren Ursprung haben sie in Großbritannien, wo sie weit verbreitet sind. Der DRK-Kreisverband Biberach griff die Idee im Frühjahr 2017 auf. „Wir haben die Dose weiterentwickelt und vertreiben sie jetzt in ganz Deutschland. Der Bedarf ist riesig“, sagt Benjamin Hopp. Der Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit nennt die Dose eine „sinnvolle Ergänzung in der Notfallvorsorge“. Sehr großes Interesse hätten DRK-Verbände, Seniorenräte und Pflegedienste.

Allerdings: Die Dosen stoßen auch auf Skepsis. „Die Idee ist im Ansatz nicht schlecht“, meint Reinhard Jaki. Der frühere Chefarzt der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin der Klinik Schillerhöhe in Gerlingen hält aber etwa die Aktualisierung der Daten für problematisch. „Schlimmstenfalls kann es für den Patienten gefährlich werden, wenn er ein Medikament vergisst.“ Vergesslich seien gerade Ältere – die aber nähmen mehrere und ständig neue Mittel, deren Namen sie außerdem selten kennen. „Und wer haftet, wenn Ersthelfer die Dose übersehen oder ignorieren und dann etwas schiefgeht?“

Jaki, der an Patiententransporten für das DRK beteiligt ist, beschreibt einen Notfall als „hektische Situation, in der alles durcheinandergeht“. Häufig fände man die Person in einer „katastrophalen“ Lage vor. „Im Notfall kommt es auf jede Sekunde an, etwa wenn ein Patient wiederbelebt werden muss. Das Gehirn kommt maximal fünf Minuten ohne Sauerstoff aus. Da bleibt keine Zeit, den Kühlschrank zu suchen.“

Der DRK-Bundesverband lehnt die Dosen sogar ab. „Wir sind nicht überzeugt. Denn ein Einsatz ist nicht realistisch“, sagt Susanne Pohl. Die Sprecherin argumentiert ähnlich wie Jaki: In einem Notfall müsse ein Arzt oder Sanitäter sich sofort und voll konzentriert dem Patienten zuwenden, vor allem, wenn er bewusstlos ist. Alles Weitere werde danach geklärt. Ist der Patient ansprechbar, könne er selbst Auskunft geben. Auch dann würde die Dose vielleicht nur bedingt helfen. Pohl: „Ein Arzt ist professionell genug zu wissen, was er verabreichen darf und was nicht.“ Der Gang durch die Wohnung ist laut Verband unzulässig. „Rettungskräften steht es nicht zu, die Räume oder Taschen nach Dokumenten zu durchstöbern.“

Früher oder später entscheidet der Richter

Weshalb auch die Frage nach der Haftung ein großes Thema ist. „Grundsätzlich hat keiner Anspruch darauf, dass die Dose berücksichtigt wird“, betont Benjamin Hopp. Früher oder später entscheide ein Richter, sagt der Biberacher, der auf seine Erfahrung baut: „Die wenigsten Einsätze sind wirkliche Notfälle. Viele Patienten können sprechen.“ Trotzdem seien „qualitative Aussagen“ vor allem bei Älteren oft nicht möglich. Ein Blick in die Dose helfe da. „Bislang hatten wir keine Einsätze mit veralteten Daten.“ Was vielleicht daran liegt, dass die Dose präsent sei: Den Kühlschrank öffne man ständig.