Lindsey Vonn ist knapp daran gescheitert, den Rekord des großen Schweden Ingemar Stenmark zu knacken – er hättes es ihr aber gekönnt. Nicht nur dieser einwandfreie Charakter machte den Ski-König aus Tärnaby so besonders.

Sport: Dominik Ignée (doi)

Stuttgart - Was für ein Abschied, Lindsey Vonn befand sich total im Glück. Als sich die Ski-Legende Ingemar Stenmark als Zuschauer ihres letzten Rennens ankündigte, erfüllte es ihr Herz mit „großem Stolz“.

 

Dann kam der Moment, der die Ski-Diva aus Minnesota fast zu Tränen rührte. Zunächst verneigte sich im Zielraum die deutsche Rennläuferin Viktoria Rebensburg vor ihr. Und wenig später war es dann Stenmark höchst persönlich, der die Amerikanerin herzte und ihr einen üppigen Blumenstrauß in die Hand drückte. Sozusagen von Legende zu Legende.

Am Ende blieb Lindsey Vonn, die jahrelang die Ski-Szene mit Erfolgen und theatralischen Einlagen bereicherte wie keine Rennläuferin vor ihr, die wunderbare Bronzemedaille. Zu rechnen war damit nicht, doch die wegen heftiger Winde verkürzte WM-Abfahrt spielte ihr in die Karten. Egal: Bronze – was für ein Happy-End beim Sieg der Slowenin Ilka Stuhec, die bei der WM in Are ihren Abfahrtstitel verteidigte. Einen Tag zuvor war es der Norweger Aksel Lund Svindal, der mit einer ausgezeichneten Silbermedaille hinter seinem Landsmann Kjetil Jansrud ebenfalls seine Karriere gekonnt beendete.

Bronze und Silber zum Abschied, sehr viel besser hätte man dieses WM-Drehbuch nicht schreiben können. „Das ist Wahnsinn, wirklich ein perfekter Schluss für meine ganze Karriere“, sagte Vonn und verriet ihre Pläne für die Abschiedsfeier am Sonntagabend zu Ehren Svindals und ihrer Wenigkeit: „Jetzt ist Zeit zum Feiern.“

Die Aura des Unbesiegbaren

Vonn und Svindal – zwei Größen der alpinen Zunft haben an diesem denkwürdigen WM-Wochenende adieu gesagt. Doch dass Rücktritte die Helden nicht zwangsläufig aus dem Gedächtnis verschwinden lassen, zeigt das Beispiel Ingemar Stenmark, der Ikone alpiner Kunst, der Miss Vonn doch so gerne den Rekord von 86 Weltcupsiegen abgeluchst hätte, aber bei 82 Erfolgen hängenblieb. Ach, nicht schlimm, dafür gab es von dem Schweden ja die Blumen.

Das Denkmal Ingemark Stenmark, es steht also noch, es wackelte nur etwas, als Vonn immer wieder von ihren Ambitionen sprach. Seine Bewunderer atmen also auf. Unvergessen ist das Szenario bei der WM 2007 in Are, als der größte Rennläufer der Geschichte im Pressezentrum auf dem Podium saß. Schon seine Schritte dorthin wurden begleitet von ehrfürchtiger Stille. Nie zuvor und nie danach war der Raum so gefüllt, da spielte es auch keine Rolle, dass der Skandinavier seinem Naturell entsprechend nur ein paar überschaubare Worte von sich gab. Es ging um die Aura des einst Unbesiegbaren, die er mitbrachte. Und er wirkte so drahtig wie eh und je. Auch präsentierte er seinen trockenen Humor.

Ingemar Stenmark war ein Ausnahmesportler. Er fuhr elegant, bewundernswert intuitiv und mit außergewöhnlichem Schneegefühl. Die Einzigartigkeit seiner Technik war nicht kopierbar, er wedelte durch die Stangen, als wäre er aus einem anderen Kosmos herabgestiegen, um sich mit den Irdischen zu messen. Erst die Einführung der Kippstangen Anfang der 1980er Jahre machte den Mann, der wie auf Schienen fuhr, besiegbar. Aggressive Fahrer wie Marc Giradelli befanden sich plötzlich im Vorteil. Doch Stenmark hatte vorgelegt: von seinen 86 Erfolgen holte er 46 im Riesentorlauf, 40 im Slalom – in allen anderen Disziplinen siegte er dagegen nicht.

Die Schussfahrt war ein Graus

Die Schussfahrt, und das war das lustige an dem Schweden, war ihm ein Graus. Unvergessen sind die Kombinations-Abfahrten, in die er Schwünge einbaute, weil im die Sache zu schnell wurde. Einmal sogar traute sich Stenmark die Streif hinunter – da machten sich die Beobachter schon große Sorgen um seine Gesundheit. Es war der 17. Januar 1981, als er mit 10,72 Sekunden Rückstand auf kanadischen Sieger Steve Podborski Rang 34 belegte – Glück gehabt! Einmal ging es schief. Am 15. September 1979 kam er bei einem Abfahrtstraining im Schnalstal schwer zu Sturz, was seine Erwägung, auch in der Speed-Disziplin zu starten, stoppte. Die Abfahrt war etwas für rustikale Österreicher wie Franz Klammer, aber nichts für den Slalom-Feingeist aus dem hohen Norden.

Um so bemerkenswerter ist: Stenmark gewann dreimal den Gesamtweltcup – ohne die Abfahrt. Und er holte seinen famosen 86 Erfolge ausschließlich in den beiden technischen Disziplinen. Seine Körperbeherrschung und vor allem die Balance waren einzigartig. Zur Schulung des Gleichgewichtssinns machte er Turnübungen auf einem Seil, das er zwischen zwei Bäume spannte, schon als Knirps fing er in seinem Heimatort Tärnaby damit an. In der 500-Seelen-Gemeinde, einem Skiort im Land der Lappen, wuchsen übrigens auch andere schwedische Rennläufer wie Stig Strand, Jens Byggmark und Anja Pärson auf, nicht nur der Supermann Stenmark.

Frei von Allüren, bewundert als feiner Sportsmann und treue Seele – so haben die Fans den Schweden in Erinnerung. Irgendwann tauchte er als Nobody im Skizirkus auf. Weil die arrivierten Ski-Firmen mit einem Skandinavier nur Skilanglauf assoziierten, wollte keine von ihnen den Newcomer mit Skiern ausrüsten – nur das jugoslawische Unternehmen Elan. Aus Dank blieb Stenmark der Firma trotz millionenschwerer Angebote, die er nach den ersten großen Erfolgen bekam, bis zum Ende seiner Karriere treu. Der zeitgleich Tennis spielende Björn Borg wurde von den schwedischen Massenmedien als Star gefeiert, doch Stenmark wurde als Held geliebt – er war der Mann fürs Herz.

Eine Siegquote von 50 Prozent

Was macht ihn im Rückblick stolz? „Es sind nicht die 86 Siege. Ich habe in einem gewissen Zeitraum 64 von 128 Rennen gewonnen, also 50 Prozent – diese Quote ist beeindruckender“, sagt Stenmark heute, der das Skifahren noch viele Jahre nach seinem Abschied vermisste.

Lindsey Vonn indes, das darf man ihm glauben, hätte er den Rekord gegönnt. „Sie war so nahe dran, es ist schade. Als ich ihn damals gebrochen habe, war mir der Rekord wichtig, jetzt ist er mir völlig egal“, sagt der Olympiasieger und Weltmeister. Doch in vier oder fünf Jahren könnte das US-Wunderkind Mikaela Shiffrin seine Bestmarke knacken, denn 56 Siege hat sie schon. „Sie ist unglaublich“, sagt Stenmark, der große Schwede und Gutmensch, der am Tag X wohl wieder mit Blumen auftaucht – dann aber für Mikaela Shiffrin.

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