In Baden-Württemberg hat sich die Zahl der Einser-Abiture stark erhöht. Lag das nur an den gelockerten Regeln in der Pandemie? Was Lehrkräfte dazu sagen.

„Schlauer geworden sind die Abiturienten in den vergangenen Jahren jedenfalls nicht“, sagt eine erfahrene Gymnasiallehrerin aus dem Großraum Stuttgart, die anonym bleiben möchte – und macht damit ein gewisses Staunen über den Trend zum Einser-Abi deutlich. Die Pädagogin, die seit rund 13 Jahren Abiturarbeiten kontrolliert und bewertet, kann sich aber durchaus vorstellen, was dahinter stecken könnte.

 

So sei der Abijahrgang 2021 der erste gewesen, der die neu konzipierte gymnasiale Oberstufe durchlaufen habe – mit Basis- und Leistungsfächern. Das habe bedeutet, dass nicht alle Oberschüler eine schriftliche Abiturprüfung in Deutsch und Mathe machen mussten wie zuvor. „In einer mündlichen Prüfung kann ich Defizite aber eher ausgleichen als in einer schriftlichen“, sagt die 56-Jährige. Über Deutsch zu reden sei eben leichter, als einen langen Aufsatz zu schreiben.

Lehrpläne wurden entschlackt

Änderungen in den Abiturvorgaben führt auch Manfred Birk, der Leiter des Dillmann-Gymnasiums und kommissarisch geschäftsführender Leiter der Stuttgarter Gymnasien, an. Im Jahr 2021 habe es beim Abitur eine kleine Reform durch die Kultusministerkonferenz gegeben, die Maßstäbe seien für ganz Deutschland vereinheitlicht worden – wodurch das Ganze „aus baden-württembergischer Sicht etwas einfacher geworden ist“, sagt Manfred Birk. Außerdem habe – anders als in der Öffentlichkeit häufig angenommen – durch G8 schon „eine Entschlackung der Lehrpläne“ stattgefunden. „G8 ist nicht das alte G9.“

Birk weist außerdem darauf hin, dass in den Corona-Jahren fürs Abi teils andere Regeln galten. So hatten die Abiturienten eine halbe Stunde mehr Zeit in den Prüfungen und bekamen nicht drei zentral ausgewählte Aufgaben zur Auswahl vorgelegt. Stattdessen konnten die Lehrkräfte vorab drei Aufgaben aus sechs für die Schüler wählen. Das habe sicher für eine „größere Passgenauigkeit zum Unterricht gesorgt“, sagt Birk.

Schüler waren nicht so sehr abgelenkt

Auch sei bei den Abiturienten weniger Unterricht in Präsenz ausgefallen als in der Unter- und Mittelstufe. Die Klassen hatten früh wieder Wechselunterricht in Präsenz. Manfred Birk hat seine Schüler in der Zeit des Homeschoolings als sehr lernbereit erlebt. Sie seien „nicht faul gewesen ganz im Gegenteil“, betont der Schulleiter, viele hätten ihre Chance genutzt, seien auch weniger abgelenkt durch Partys gewesen.

Auch die befragte Lehrerin nennt die schülerfreundlichen Corona-Regeln fürs Abi als einen möglichen Grund für die guten Noten: So seien 2020 und 2021 die Korrekturen der Abiarbeiten nur schulintern vorgenommen worden, während früher die Zweitkorrekturen an anderen Bildungsstätten stattfanden. „Natürlich sollten sich Erst- und Zeitkorrektor nicht austauschen über die Noten. Doch das wurde sicher nirgendwo durchgehalten“, berichtet die Lehrerin. Das heißt, der jeweilige Zweitkorrektor hat sich womöglich an der Bewertung des Erstkorrektors orientiert und deshalb vielleicht keine schlechtere Note gegeben.

Bei der Notenvergabe großzügiger

Ein weiterer Grund sei, dass Lehrer und Lehrerinnen während Corona-Zeiten bei der Vergabe der mündlichen Note im Unterricht „großzügiger“ gewesen seien, sagt die Pädagogin. „Wir haben alle im Sinne der Schüler entschieden.“. Da diese „großzügigen“ Noten während der Oberstufe in die Abiturnote miteinfließen, steigt so natürlich auch der Schnitt am Ende der Schulzeit.

Eine Einschätzung, die eine andere Oberstufen-Lehrerin bestätigt, die seit vielen Jahren Abi-Jahrgänge betreut. Während der Pandemie habe man einfach geschaut, „dass die Schülerinnen und Schüler möglichst keine Nachteile aus der Situation haben“.

Mehr Erörterungen statt Literaturarbeiten

Dass das Abitur in Baden-Württemberg unabhängig von Corona leichter geworden sei kann die Stuttgarter Lehrerin für ihre Fächer Deutsch und Französisch nicht bestätigen. Auch die Mathe-Kollegen berichteten ihr, dass das Niveau eher gestiegen sei. Allerdings hätten sich je nach Fach teils die Schwerpunkte verschoben. In Deutsch werde derzeit weniger auf die Arbeit mit literarischen Texten wert gelegt, sondern eher auf pragmatische Aufsatzformen wie Kommentare oder Erörterungen. „Es kann sein, dass solche Formen Schülern eher liegen“, sagt die Pädagogin. Für 2022 veröffentlicht das Kultusministerium offiziell noch keine Zahlen zu den Abiturschnitten in Baden-Württemberg – obwohl diese den Schulen bereits vorliegen.

Manfred Birk sagt, dass man vergangenes Jahr ein „ein fast normales Abitur“ erlebt habe. So wurden die Arbeiten auch wieder von fremden Prüfern mit abgenommen und korrigiert. Es könnte also sein, dass der Trend zu mehr Einser-Abituren 2022 wieder ausgebremst wurde. Den befragten Pädagogen ist es wichtig zu betonen, dass auch 2020 und 2021 Ergebnisse nicht geschönt wurden oder die Abiture keinesfalls weniger wert sind.

„Das war kein Geschenk“

Das sagt auch Norbert Edel, Schulleiter des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums. „Da ist niemandem etwas nachgeschmissen worden“, sagt er und gibt zu bedenken, dass die Abiklassen durch die Coronakrise auf der anderen Seite auch „große Belastungen“ erlebt hätten. Im Übrigen hätten sich die Abiturergebnisse an seinem Gymnasium „im großen und ganzen im Rahmen gehalten“, sagt Edel. Er betont: „Das war kein Geschenk.“