Gina Lückenkemper ist die schnellste Frau Deutschlands. Bei der Leichtathletik-WM in Berlin will sie das unter Beweis stellen. Gina Lückenkemper kann aber viel mehr als schnell laufen. Ein Porträt.

Stuttgart - Gina Lückenkemper sitzt schon wieder auf dem Pressepodium, diesmal in der Königlichen Porzellan-Manufaktur neben dem Tiergarten in Berlin. Weit draußen in der Sportschule Kienbaum, im Niemandsland von Brandenburg, saß sie erst vergangene Woche und beantwortete Reporterfragen. Jetzt hat sie sich angenähert ans Olympiastadion und hört am Sonntagvormittag noch einmal die gleichen Fragen. Was sie sich erwarte von der Heim-Europameisterschaft in der Hauptstadt, wie sie in Form sei, ob sie sich freue – solche Dinge. „Das Kribbeln ist groß“, sagt Gina Lückenkemper auch diesmal, „die Vorfreude ist gigantisch.“

 

Jetzt geht es also endlich los. Mit der Qualifikation der Kugelstoßer auf dem Breitscheidplatz beginnen an diesem Montagabend die Europameisterschaften, ehe es von Dienstag an im Olympiastadion ernst wird. Zur großen Sommerparty sollen die Titelkämpfe werden, der Leichtathletik neue Fans und dem Fernsehen hohe Quoten bescheren. An Gina Lückenkemper, der schnellsten Frau Deutschlands, wird dieses Vorhaben nicht scheitern.

„Sie ist ein Geschenk des Himmels“

Die flotte Gina, 21 Jahre jung, ist das Gesicht der deutschen Leichtathletik und der Heim-EM in Berlin, Sie ist die beste Botschafterin, die sich der DLV vorstellen kann. „Für die deutsche Leichtathletik ist sie ein Geschenk des Himmels“, sagte der langjährige DLV-Präsident Clemens Prokop im „Spiegel“. Denn Gina Lückenkemper kämpft nicht nur um Medaillen – sie kämpft auch für ihre gesamte Sportart. Und das schon seit Monaten.

Zur Multimediareportage über Gina Lückenkemper

Stets gut gelaunt saß sie in den Pressekonferenzen und gab im Vorfeld der EM unzählige Interviews. Sie traf sich zum Fototermin mit Philipp Lahm und reiste mit einem Kinderhilfswerk nach Ghana. Sie ließ sich von unserer Zeitung ein halbes Jahr lang für eine Multimediareportage begleiten und führte die Kollegen auch in den Stall ihres Pferdes Picasso im westfälischen Merklingsen nahe ihrem Wohnort Soest. In Summe kommt sie auf 40 solcher Termine im Jahr. „Viele Leute unterschätzen, was das für eine enorme mentale Belastung ist. Da wird der Kopf manchmal gekillt.“

Es ist nicht allein die Selbstvermarktung einer Individualsportlerin, die in den sozialen Netzwerken mittlerweile fast 100 000 Fans hat und auch deshalb zu den Spitzenverdienern in der deutschen Leichtathletik zählt. Gina Lückenkemper vermittelt glaubhaft, dass es ihr ums große Ganze geht. Ihre Mission lautet: „Ich will den Leuten zeigen, dass es nicht nur Fußball gibt. Ich will Kinder und Jugendliche für die Leichtathletik begeistern.“

Talent und Ehrgeiz gepaart mit Lockerheit

Kaum einer gelingt das besser als der blonden Sprinterin von Bayer 04 Leverkusen, bei der sich Talent und Ehrgeiz mit ebenso großer Lockerheit paaren. Noch immer wirkt sie so unbeschwert wie mit 15, als sie bei den U-20-Weltmeisterschaften in Barcelona die jüngste Teilnehmerin war und es bis ins Halbfinale schaffte. Drei Jahre später gewann Lückenkemper ihren ersten Titel – bei der Junioren-Europameisterschaft im schwedischen Eskilstuna holte sie Gold über 200 Meter.

Drei deutsche Meistertitel und zwei EM-Bronzemedaillen hat Lückenkemper inzwischen bei den Aktiven gesammelt – den größten Erfolg aber feierte sie vergangenes Jahr in London. Bei der WM rannte sie im 100-Meter-Vorlauf 10,95 Sekunden und war damit die erste deutsche Frau seit 26 Jahren, die unter elf Sekunden blieb. Bei der WM 1991 in Tokio war dies Katrin Krabbe gelungen. Im Jahr darauf wurde die zweifache Weltmeisterin wegen der Einnahme des Kälbermastmittels Clenbuterol aus dem Verkehr gezogen.

Der Generalverdacht gehört noch immer zur Leichtathletik – doch lässt Gina Lückenkemper das Publikum zumindest daran glauben, dass sportliche Höchstleistungen auch ohne Doping möglich sind. Ihre sozialen Netzwerke nutzt sie auch dazu, um von den vielen Kontrollen zu berichten. „Ich weiß, dass ich sauber bin“, sagt sie und fordert, dass Athleten, die einmal überführt wurden, aus den Rekordlisten gestrichen werden. Sie selbst will „den Leuten zeigen, was ich aus mir rausholen kann, was ich mir hart erarbeiten kann – ohne irgendwelche Mittelchen“.

Eine Medaille ist ihr Ziel

Mit ihrer Saisonbestzeit von 11,07 Sekunden, gelaufen beim Diamond-League-Meeting in Lausanne, liegt Gina Lückenkemper auf Rang sechs, an der Spitze rangiert die Britin Dina Asher-Smith (10,92). Trotzdem will sie in Berlin nicht nur zum Abschluss am Sonntag mit der deutschen Sprintstaffel eine Medaille, sondern auch über 100 Meter am Dienstag. Die Chancen stehen nicht schlecht, denn Lückenkemper ist ein ausgewiesener Wettkampftyp und hat ihre Leistungen in diesem Jahr stabilisiert. Auch den Start, ihr großes Problem, hat die Sprinterin verbessert. „Ich denke jetzt nicht mehr: Gleich kommt der Schuss. Inzwischen weiß ich es auch so.“