Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat einige langjährige Nationalläufer ausgemustert, weil in ihnen kein Medaillenpotenzial gesehen wird. Die betroffenen Athleten sind stocksauer, der Verband verweist auf die neuen Vorgaben von oben. Wer ist im Recht?

Stuttgart - Die Finanzspritze für den Start ins neue Jahr musste sich Marcel Fehr hart erkämpfen. Er war in den letzten Dezembertagen erkältet und entschied sich dennoch für die Teilnahme am Silvesterlauf in Backnang; er musste alle verbliebenen Kräfte mobilisieren, um sich nach zehn Kilometern als Erster über die Ziellinie zu retten. Das Preisgeld: 200 Euro.

 

Der olympische Leistungssport, das weiß der Wirtschaftsstudent an der Uni Hohenheim nicht erst seit der Siegerehrung in Backnang, erfordert jede Menge Idealismus. Davon wird Marcel Fehr künftig noch mehr brauchen. Denn auf die Unterstützung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), zu dessen Bundeskader er zehn Jahre lang gehörte, darf der 25-Jährige nicht mehr bauen.

Den Schorndorfer Marcel Fehr hat es besonders hart getroffen

Der Athlet der SG Schorndorf 1846, im vergangenen Jahr Zweitbester in Deutschland über 3000 und 5000 Meter, wurde aussortiert – genau wie einige seiner Mittel- und Langstreckenkollegen. Olympiateilnehmer wie Corinna Harrer, Florian Orth, Philipp Pflieger und Sabrina Mockenhaupt sind darunter – Spitzensportler, die jahrelang das deutsche Trikot getragen haben und nun vor den Kopf gestoßen sind. „Plötzlich wirst du zum Hobbyläufer degradiert“, sagt Marcel Fehr, „das ist schon heftig.“

Um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, muss man zurückgehen: Im Dezember 2016 verabschiedete der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) in Magdeburg seine umstrittene Leistungssportreform. Das Ziel des neuen Förderkonzeptes besteht, vereinfacht ausgedrückt, darin, die Zahl der Medaillen (trotz der vielen Dopingskandale in der Welt) markant zu erhöhen. Daher sollen nur noch Athleten unterstützt werden, die in der Lage scheinen, Medaillen für Deutschland zu gewinnen. Der Rest hat, salopp gesagt, Pech gehabt.

Goldmedaillen hat es im Schwimmen und Laufen schon lange nicht mehr gegeben

Freuen dürfen sich die deutschen Wintersportler, die dem Fernsehpublikum in der Heimat, das ihre Förderung durch Steuergelder finanziert, in Pyeongchang regelmäßig vom Podium entgegen winken dürften. Groß dagegen ist das Entsetzen bei vielen jener Athleten, die sich dem olympischen Kernsport verschrieben haben, sich mit weltweiter Konkurrenz messen müssen und nicht zu den Medaillenlieferanten gehören: den Schwimmern und Läufern. Das letzte deutsche Olympiagold im Schwimmbecken holte Britta Steffen 2008 in Peking, der letzte Olympiasieger auf der Laufbahn war Nils Schumann, 2000 in Sydney Überraschungssieger über 800 Meter.

Dass auch Marcel Fehr nicht der nächste deutsche Olympiasieger wird, weiß er selber – dass ihn der eigene Verband aufgibt, kann nicht nur er schwer verstehen. Das vergangene Jahr war das beste seiner Karriere. Mit der Nationalmannschaft wurde er in Lille Team-Europameister und verbesserte zweimal seine persönliche Bestzeit. Dieses Jahr will er den nächsten Schritt machen, er ist erst 25. Die Ausbootung traf ihn wie ein Keulenschlag. „Einfach zack, draußen. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Es gab keine Information und kein Dankeschön.“ Sein Athletenprofil auf der DLV-Homepage wurde gelöscht.

„Da fühlt man sich verarscht“

Bei 13:31,29 Sekunden liegt Fehrs Bestzeit über 5000 Meter. Das ist zwar deutlich schneller als die vom Verband geforderte Norm für die Heim-EM in Berlin (13:40) – aber eben zu langsam, um in den neu strukturierten Bundeskader zu kommen. Für die Aufnahme in den so genannten Perspektivkader verlangt der DLV eine Zeit von 13:16. So schnell ist nur WM-Teilnehmer Richard Ringer. Dass neben ihm trotzdem zwei weitere Läufer in den Kader berufen wurden, hat für den Ausgemusterten das Fass vollends zum Überlaufen gebracht: „Da fühlt man sich verarscht.“

Bei der Suche nach Gründen haben Fehr und sein Schorndorfer Heimtrainer Uwe Schneider viele Mails und Protestnoten an die zuständigen Stellen geschrieben. Zufriedenstellende Antworten, so berichten sie, haben sie nicht erhalten, weder vom DLV noch vom DOSB. „Entwürdigend“ findet es Schneider, wie Athleten behandelt werden. Nur ein schwacher Trost ist es, dass sie mit ihrer Wut nicht alleine sind. „Ist das euer Dank? Schweigen?“, schrieb 10 000-Meter-Läuferin Corinna Harrer bei Facebook, „Danke für nichts“, erklärte Philipp Pflieger. Wie Hohn klang es für den Regensburger Marathonläufer, dass DLV-Sportdirektor Idriss Gonschinska schriftlich darum bat, „die Nichtkaderberufung nicht als fehlende Wertschätzung für Ihr hohes Engagement einzuordnen“.

DLV-Sportdirektor Idriss Gonschinska weist die Vorwürfe zurück

Den Vorwurf mangelhafter Kommunikation weist Gonschinska zurück: „Wir stehen für Transparenz und Offenheit. Aus meiner Sicht wurden die Athleten über die Trainerteams persönlich benachrichtigt.“ Die Enttäuschung der betroffenen Läufer hingegen hält der frühere Hürdensprinter für „emotional nachvollziehbar“. Der DLV-Sportchef findet es „wichtig, dass sich mündige Athleten klar positionieren“. Allerdings: „Ich würde mir wünschen, die Entscheidungen differenzierter zu sehen.“

Idriss Gonschinska nimmt sich viel Zeit, um seine Sicht der Dinge zu erläutern. Von den Auswirkungen der Leistungssportreform spricht er, den neuen Zielstellungen, der veränderten Kaderstruktur – den Vorgaben von oben also, die nicht nur die Leichtathletik umsetzen müsse. Der DLV habe in den Diskussionen zwar kritisch angemerkt, dass der Medaillenspiegel „nicht das alleinige Kriterium für Erfolg“ sein dürfe. „Unbenommen dessen haben am Ende auch wir eine Reformierung der Spitzensportförderung als notwendig bewertet und zugestimmt.“

Ein 17-köpfiges Gremium entscheidet über die Kadernominierungen

Zur Reform gehört auch, dass nicht mehr die Verbände alleine entscheiden dürfen, welche Athleten gefördert werden. Früher haben darüber vor allem die zuständigen Disziplin-Trainer entschieden – jetzt sitzt ein 17-köpfiges Gremium am Tisch des Bundesausschuss Leistungssport (BAL) und erörtert Leistungsvermögen und Perspektiven der Athleten. Die Abstimmungen, berichtet Gonschinska, seien „deutlich intensiver“ geworden, am Ende stehe „eine letztlich gemeinsam getragene Nominierung“. Dabei gelte es auch, „Entscheidungen im Grenzbereich zu treffen“. Wie im Falle von Marcel Fehr. Das Gremium senkte die Daumen, obwohl Langstrecken-Bundestrainer André Höhne für eine Fortsetzung der Förderung plädiert hatte.

Für Fehr, Freund und Trainingspartner der 1500-Meter-WM-Finalistin Hanna Klein, hat der Rauswurf neben maßloser Enttäuschung und gekränktem Stolz auch ganz handfeste Folgen. Auf 14 000 Euro beziffert Fehr die Summe, die ihm jährlich fehlen wird, weil er von der Sporthilfe keine Fördergelder mehr bekommt und auch nicht mehr mit in die vom Verband finanzierten Trainingslager darf. Als Kaderathlet war er früher in Portugal, den USA oder Kenia – jetzt fährt er mit seinem Verein in die Jugendherberge nach Breisach am Rhein. „Ich wage zu bezweifeln, dass es der richtige Weg ist, nur noch die Topleute zu fördern, die teils ohnehin schon ordentlich verdienen“, sagt Fehr: „Viel wichtiger wäre es für jene Athleten, die noch auf dem Weg nach oben sind.“

Marathonläufer Philipp Pflieger erhebt schwere Vorwürfe

Als einer der deutschen Topathleten im Boomsport Marathon ist der ebenfalls nach zehn Jahren ausgemusterte Philipp Pflieger auf die Unterstützung von Sporthilfe und Verband nicht mehr angewiesen. Dank Ausrüsterverträge, Startgelder und geschicktem Eigenmarketing kommt der „selbstständige Sportunternehmer“, wie sich der 31-Jährige nennt, gut über die Runden. Entsetzt ist aber auch er. „Mir geht es nicht um die Kohle, sondern darum, wie Athleten von Funktionären behandelt werden. Da fehlen jeglicher Respekt und jegliches Vertrauen.“

Die Leistungssportreform, meint der gebürtige Sindelfinger, sei „ein Sargnagel für viele Sportarten in Deutschland“. Disziplinen, die keine Medaillen versprechen, würden einfach aufgegeben. „Es tut mir weh, wenn ich sehe, dass es für Schwimmer oder Läufer keine Zukunft gibt, weil in ihnen kein Medaillenpotenzial gesehen wird. Für eine Sportnation wie Deutschland ist das eine Bankrotterklärung.“ Der Olympiateilnehmer von 2016 beklagt zudem die „Doppelzüngigkeit“ von Deutschlands obersten Sportfunktionären: „Auf der einen Seite wird sauberer Sport propagiert, andererseits werden völlig utopische Normen gefordert. Das ist eine Frechheit.“ Düstere Zeiten sieht Pflieger auf den Langstreckenlauf in Deutschland zukommen: „Jeder kann die Zeichen lesen. Die Athleten merken: Wenn sie sich nicht auf sich sich selbst verlassen, dann sind sie verlassen.“

Marcel Fehr will weiter angreifen – mit Wut im Bauch

Marcel Fehr will sich trotzdem nicht unterkriegen lassen. Derzeit ist der Masterstudent im Prüfungsstress, danach will er wieder angreifen, mit Wut im Bauch. Die Heim-Europameisterschaft in Berlin (7. bis 12. August) ist sein großes Ziel, die Qualifikation realistisch. Mit dem Gedanken, den Leistungssport aufzugeben, hat er sich trotz aller Enttäuschung nicht beschäftigt. „So eine Entscheidung will ich mir nicht abnehmen lassen“, sagt Fehr. „Es klingt vielleicht trotzig, aber ich will irgendwann selbst sagen, ich kann und will nicht mehr. Und nicht: ich darf nicht mehr.“