In London beginnen am Freitag die Leichtathletik-Weltmeisterschaften. Der große Abschied von Usain Bolt soll nicht der einzige Höhepunkt bleiben. Dafür wollen auch die deutschen Starter sorgen.

London/Stuttgart - Es kommt nicht mehr oft vor, aber manchmal muss auch König Fußball seinen Platz räumen. Im Schnellverfahren wurde das Olympiastadion in London, das seit der vergangenen Saison die Premier-League-Kicker von West Ham United in Beschlag genommen haben, wieder in eine Leichtathletik-Arena umgebaut. Die Tribünen am Spielfeldrand sind abmontiert und haben die darunter liegende Laufbahn freigegeben; Sprunggrube, Wurfkreis und Wassergraben stehen ebenfalls bereit – so wie bei den Sommerspielen 2012, als die Arena im Osten der britischen Hauptstadt neben den spektakulären Feiern zur Eröffnung und zum Abschluss auch in jeder Beziehung denkwürdige Leichtathletik-Wettbewerbe erlebt hat.

 

Es ist also alles angerichtet, wenn an diesem Freitagabend in London nach der Para-WM die 16. Leichtathletik-Weltmeisterschaften beginnen. Zehn Tage lang wird gerannt und gesprungen, geworfen und gekämpft, aus 205 Nationen gehen rund 2000 Athleten beim bedeutendsten Sportereignis in diesem Jahr an den Start.

Die großen Stars

Gleich zum Auftakt wird es besonders stimmungsvoll, wenn am Freitag der britische Nationalheld Mo Farah über 10 000 Meter seine nächste Goldmedaille gewinnen will. Der Südafrikaner Wayde van Niekerk will das seltene Kunststück vollbringen, als erster Sprinter seit Michael Johnson (1995) über 200 und 400 Meter zu gewinnen; das Double aus 100 und 200 Metern nimmt die Jamaikanerin Elaine Thompson in Angriff.

Beit Weitem überstrahlt wird das alles jedoch vom Abschied einer lebenden Sportlegende: Ein letztes Mal wird Usain Bolt, der achtmalige Olympiasieger und dreifache Weltrekordler, am Samstagabend um eine Goldmedaille über 100 Meter laufen. Auf einen Start über 200 Meter verzichtet der Jamaikaner diesmal – und kehrt mit gemischten Gefühlen nach London zurück: „Ich bin glücklich über meine Karriere, aber traurig, dass sie endet.“

Das Thema Doping

So berauschend die Leichtathletik-Wettkämpfe in London 2012 gewesen sein mögen – der große Kater ließ nicht lange auf sich warten. Längst weiß man, dass systematisches Doping der Grund für viele umjubelten Leistungen war. Der 1500-Meter-Lauf der Frauen gilt mit sechs überführten Starterinnen (darunter die beiden Türkinnen auf den Plätzen eins und zwei) als dreckigstes Rennen aller Zeiten; von 53 russischen Finalisten wurden im Nachgang 29 als Betrüger enttarnt. Die olympische Kernsportart Leichtathletik war am Tiefpunkt angelangt – und sucht auch weiterhin Wege aus der großen Krise. London 2017, das hofft jedenfalls IAAF-Präsident Sebastian Coe, soll im Kampf um neue Glaubwürdigkeit zu einem entscheidenden Wendepunkt werden.

Der russische Leichtathletik-Verband bleibt weiter suspendiert. Allerdings erteilte die IAAF 19 Athleten, die die Anforderungen des internationalen Antidopingprogramms erfüllt haben, die Starterlaubnis unter neutraler Flagge. „Es wurden große Fortschritte in Russland erzielt, aber einige wichtige Schritte sind noch nicht getan worden“, erklärte Rune Andersen, Leiter der Taskforce der IAAF.

Das deutsche Team

72 Sportler umfasst die deutsche Mannschaft, die mit eher bescheidenden Zielen nach London reist. „Wir sind in einem Jahr der Neuorientierung mit vielen jungen Athleten“, sagt DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska. Jeweils acht Medaillen gewannen deutsche Leichtathleten bei Olympia 2012 in London und bei der WM 2015 in Peking. „Ich hätte nichts dagegen, wenn es wieder so ausgeht, aber man muss realistisch bleiben“, sagt Gonschinska. Bei den Olympischen Spielen in Rio standen vergangenes Jahr nur drei deutsche Leichtathleten auf dem Podium.

Ein Großteil der DLV-Mannschaft schwor sich zuletzt am Bundesstützpunkt in Kienbaum nahe Berlin ein. „Es geht in den letzten Tagen nicht mehr um das Training, sondern um die mentale Einstellung“, erklärt der Chef-Bundestrainer: „Ich glaube, dass auch in Individualsportarten der Erfolg sehr stark vom Teamspirit abhängt.“

Die deutschen Hoffnungen

Gleich am Eröffnungswochenende steigt Robert Harting in jenen Diskusring, in dem er 2012 seinen größten Triumph feierte. Nach langer Verletzungspause vermag aber auch der Berliner selbst nicht zu sagen, zu was er diesmal in der Lage ist. Fest eingeplant sind dafür Medaillen im Speerwerfen, wo der DLV in Johannes Vetter, Thomas Röhler und Andreas Hoffmann die ersten drei der Weltjahresbestenliste stellt. Berechtigte Hoffnungen dürfen sich auch die Mehrkämpfer Rico Freimuth und Carolin Schäfer machen. Als Medaillenkandidaten gelten zudem die Hochspringer Mateusz Przybylko und Marie-Laurence Jungfleisch sowie die 4x100-Meter-Staffel um Gina Lückenkemper. Und nicht ausgeschlossen, dass Deutschlands neue Wunderläuferin Konstanze Klosterhalfen über 1500 Meter für eine Überraschung sorgt.