Wenn ein geliebter Mensch an Demenz erkrankt, verändert sich das ganze Leben. Inge Jens schildert in der Stadtbücherei die letzten Jahre mit dem einst wortgewaltigen Gelehrten Walter Jens.

Leonberg - Es ist wie eine Volksseuche“, sagt Inge Jens. „Heute heute kennt fast jeder eine Familie, in der jemand dement ist.“ Für die Literaturwissenschaftlerin war die Erkenntnis, dass ihr Mann, Walter Jens, an dieser Krankheit leidet, vor 14 Jahren etwas völlig Neues. Sie habe erst im Brockhaus nachschauen müssen, was das Wort bedeutet. „Jetzt weiß jeder Bescheid, doch damals durfte noch nicht einmal darüber geredet werden.“

 

Die elegant gekleidete schlanke Frau mit dem Kurzhaarschnitt kommt zwar mit Unterstützung eines Rollators zum Gespräch in die Leonberger Stadtbücherei. Doch die gebürtige Hamburgerin spricht noch heute in einer klaren Sprache und mit geschliffen formulierten Sätzen.

Vor einigen Tagen hat die in Tübingen lebende Publizistin und Herausgeberin der Thomas Mann-Tagebücher ihren 90. Geburtstag gefeiert – allerdings nicht mehr in dem großen Haus, das sie mit ihrem Mann, dem Altphilologen, Schriftsteller und Rhetorik-Professor an der Tübinger Universität bewohnte. Die alte Dame lebt inzwischen im Betreuten Wohnen.

Inge Jens hat das „langsame Entschwinden“ in einem Buch festgehalten

Seit dem Jahr 1951 waren Walter und Inge Jens verheiratet. Als er 2013 starb, hatte er bereits eine rund zehnjährige Leidensgeschichte hinter sich, die auch das Leben seiner Familie stark beeinflusste. Inge Jens hat diese Jahre unter anderem in dem 2016 erschienen Buch „Langsames Entschwinden – vom Leben mit einem Demenzkranken“ eindrucksvoll festgehalten.

Erste Anzeichen der Krankheit habe es bereits an der Arbeit zu dem Buch „Frau Thomas Mann“ gegeben. Trotzdem konnten sie das Werk noch gemeinsam fertigstellen – „wenn ich am Ende auch etwas mehr gemacht habe“, so Inge Jens. Doch seit 2004/2005 habe sich die Krankheit ihres Mannes nicht mehr übersehen lassen. „Er wurde oft schläfrig oder fand den Heimweg nicht mehr“, erzählt sie den zahlreichen Zuhörern in der Leonberger Stadtbücherei im Gespräch mit der Moderatorin Christel Freitag.

Später habe Walter Jens oft verzweifelt auf die Demenz reagiert, auch mit Aggressionen. „Alles, was vorher war, ist wie ausgelöscht“, beschreibt die Wissenschaftlerin die Veränderung durch die Krankheit. „Es ist da ein anderer Mensch, von dem Sie wissen, dass er einmal Ihr Mann gewesen ist.“ Trotzdem habe sie nicht ein einziges Mal das Bedürfnis gehabt, sich dauerhaft von ihm zu trennen. „Ich wollte bei ihm sein in dieser Zeit.“ Sie habe ihr kirchliches Versprechen aus der Eheschließung ernst genommen. „Mein Mann hat sich zwar verändert, aber das war kein Grund, ihn zu verlassen.“

Putzfrau kommt als Pflegerin bestens mit Walter Jens zurecht

Inge Jens schildert, wie die Situation für das Ehepaar etwas leichter wurde, als eine Pflegerin, die ursprünglich als Putzfrau eingestellt worden war, auf „Anhieb fantastisch“ mit dem Kranken zurecht kam. Sie nahm ihn mit zum Einkaufen und auf ihren Bauernhof. Dort habe er eine neue Welt entdeckt, interessierte sich plötzlich für Tiere.

Die Tübinger Gesellschaft habe es nicht immer gut gefunden, dass Inge Jens ihren Mann mit der Pflegerin nach draußen ließ, sagt Interviewerin Freitag. „Ja, ich bin dafür getadelt worden“, berichtete Inge Jens von ihren Erfahrungen. „Doch warum soll einer kein Kaninchen füttern, nur weil er mal Griechisch und Latein unterrichtet hat?“, fragt sie. Es sei eine große Gnade für ihren Mann gewesen, dass er die Möglichkeit zu einem solchen zweiten Dasein bekam.

Und wenn sie nun selbst an Demenz erkranken würde, fragt eine Besucherin. „Dann würde ich in ein Heim gehen“, sagt sie klipp und klar. „Aber“, so fügt sie hinzu, „ich bin auf jeden Fall dankbar für die 90 guten Jahre, die ich schon hatte.“