Serie zum Ersten Weltkrieg: Im württembergischen Reserve-Infanterie-Regiment 120 dienten vor allem Soldaten aus Leonberg, Stuttgart und Esslingen. Bei den Kämpfen um Verdun, an der russischen Ostfront und in Flandern hat es hohe menschliche Verluste erlitten.

Leonberg - „Das Regiment 120 hatte längst mit solchen Anschauungen gebrochen, bei uns galt der Mensch selbst und nicht seine Abstammung, Rang und Vermögen seines Vaters oder Onkels.“ Das schrieb noch im Jahr 1920 der langjährige Kommandant des Württembergischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 120, Oberst Ferdinand Ludwig Fromm, in seinen Buch über die Teilnahme des Regiments am Ersten Weltkrieg. Der Anlass für diese rückblickenden Worte war ein Schreiben des Oberkommandos im August 1917 gewesen, das einen Vizefeldwebel nicht geeignet hielt, Offizier zu werden – weil er Jude sei.

 

Da bei einem Akt der Tapferkeit, wie ihn der Mann vollbracht hatte, nur die Wahl von Seiten der Kameraden erforderlich war und sonst nichts, wurde jener Vizefeldwebel vom Regiment zum Offizier gewählt, vorgeschlagen und befördert. Wenige Jahre später, erklangen in Deutschland ganz andere Töne – der vom „böhmischen Gefreiten“ (Reichspräsident Hindenburg verwechselte den österreichischen Geburtsort Adolf Hitlers Braunau mit der böhmischen Stadt Broumov) geschürte Hass ließ die alten Frontkämpfer ihr gemeinsames Leiden in den Schützengräben vergessen.

Dabei hatte gerade das 120. im Weltkrieg einen hohen Blutzoll gezahlt. Von 1914 bis 1919 war es ein Regiment des württembergischen Heeres. Seine Bataillone wurden am 2. August 1914 in Leonberg, Stuttgart, und Esslingen am Neckar aufgestellt. Als reine Kriegsformation hatte es keine Friedensgarnison. Das Ersatzbataillon war in Stuttgart stationiert. Gegen Ende des Krieges wurde es nach Esslingen verlegt.

Mit 73 Offizieren und Ärzten und rund 3000 Unteroffizieren und Mannschaften ist das Regiment am 10. August 1914 in den Vogesen aufmarschiert. Mit Marschbefehl vom 20. Juli 1915 kam das Reserveregiment an die Narew im Raum Bialystok im heutigen Polen. Die Rückverlegung an die Westfront erfolgte im Oktober 1915. Von 7. März bis Anfang April 1916 kämpfte das Regiment bei Verdun. Diese Schlacht um die strategisch unwichtige Festung Verdun, die bis Dezember 1916 andauerte, markiert den Beginn der großen Materialschlachten des Ersten Weltkrieges – sie wurde zum Inbegriff für die Industrialisierung des Krieges.

„Es gab eine Zeit, da wurde die Versetzung zum 120. gleichsam als Todesurteil gewertet“, schrieb Fromm in seinem Buch. Das sei die Zeit gewesen, als das Regiment bei La Boiselle, vor Arras, aber auch in Russland und vor Verdun kämpfte.

Nach Stellungskämpfen bei Reims wurde es Mitte September 1916 an die Somme verlegt, wo es sich bis Mitte Dezember 1916 wieder im Stellungskampf befand. In diese Zeit fällt auch eine Episode, in der Karl Fischötter, der Vater des ehemaligen Leonberger Kulturamtsleiters Karlheinz Fischötter, im wahren Wortsinn eine tragende Rolle gespielt hat. Anfang Oktober wurde das Regierungsjubiläum des württembergischen Königs Wilhelm II. begangen, der seinen Bürgern als beliebter und volksnaher König galt. Unter englischem Geschützdonner – es war der erste Kontakt des 120. mit den Briten – wurde an der Front ein Festgottesdienst abgehalten, bei dem der 46-jährige Karl Fischötter, von Berufs wegen Opernsänger, zur Musik ein Gesangssolo vortrug. Ganz Schwabe, erinnerte sich der Regimentskommandant Ferdinand Ludwig Fromm auch einige Jahre später noch daran: „Dank der belgischen Lebensmittelverhältnisse hatte ein Bataillon an diesem Tag geröstete Spätzle gekocht und dazu drei Eier für den Mann verwendet“ – für einen sparsamen Schwaben fast unvorstellbar.

Von der Somme wurde das 120. nach Flandern verlegt. Dort kämpfte es über ein Jahr lang. Am 1. September 1918 wurde die abgekämpfte Truppe per Bahn nach Lothringen verlegt. Dort kam die Einheit zur Ruhe und wurde mit aufgelösten Truppenteilen aufgefrischt. Im Raum Cambrai und an der Sambre war es bis zum Waffenstillstand am 11. November 1918 in heftige Abwehrkämpfe verwickelt. Nach dem Waffenstillstand begab sich das Regiment am 12. November 1918 auf den Rückmarsch in die Heimat. Die Disziplin lockerte sich und so kam es Mitte Dezember 1918 zu Unruhen, weil sich der Rücktransport in die Heimat immer wieder verzögerte und die Furcht bestand, zurückgelassen zu werden. Am 23. Dezember 1918 zog das Regiment in Esslingen ein. Am 10. Januar 1919 war die Demobilisierung abgeschlossen und das Regiment wurde aufgelöst. Rund 20 000 Personen gehörten ihm in den viereinhalb Jahren seines Bestehens an. Davon sind rund 2700 Soldaten gefallen und 7600 wurden verwundet.

Doch leider wich schon wenige Jahre nach Kriegsende die Erinnerung an das erlebte Grauen und das sinnlose Hinschlachten an den Fronten einer Glorifizierung der Toten. Die Erzählungen über ertragenes Leid und die großen Entbehrungen ersetzten Geschichten von Heldentaten. Alte Frontkämpfer marschierten auch zackig durch die Straßen von Stuttgart und trafen sich zum kameradschaftlichen Zusammensein. Sie schufen unwissend oder gewollt, den fruchtbarer Nährboden für Revanchismus und Fanatismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Und so haben die, die es besser hätten wissen müssen, geholfen, die nächste, noch größere Katastrophe des 20. Jahrhunderts heraufzubeschwören.