Hass und Hetze haben in den vergangenen Jahren zugenommen, auch gegenüber den Medien. Bei allen Unterschieden sind sich die Mitglieder des Leserbeirats der Stuttgarter Zeitung darin einig, dass die Pressefreiheit gegen Populisten geschützt und verteidigt werden muss.

Stuttgart - Über die diesjährigen Empfänger des Friedensnobelpreises freut sich Doris Helzle ganz besonders. Dass die Auszeichnung an zwei Journalisten geht, sei ein wichtiges Signal für die Pressefreiheit, sagt sie beim Treffen des Leserbeirates der Stuttgarter Zeitung. Diese sei ja alles andere als selbstverständlich.

 

Nobelpreis für Journalisten

Die philippinische Journalistin Maria Ressa und der russische Journalist Dmitri Muratow werden dafür geehrt, dass sie trotz jahrelanger staatlichen Einschüchterungsversuche und Drohungen weiter über Morde an Regimegegnern, Korruption und andere Verbrechen in ihren Ländern berichten. Mit der Situation in diesen und vielen anderen Ländern ist die Lage von Journalisten in Deutschland nicht vergleichbar. Aber auch hierzulande nehmen Aggressionen und Attacken gegen Medienvertreter zu. Bei Demonstrationen werden sie als „Lügenpresse“ beschimpft und an ihrer Arbeit gehindert, manchmal in aller Öffentlichkeit und mehr noch im Internet bedroht.

Hemmschwelle gesunken

„Das hat sich deutlich zum Negativen verändert, die Hemmschwelle ist gesunken“, sagt Rainer Pörtner, der Leiter des Ressorts Politik und Landespolitik, bei der Diskussion des Leserbeirats, der sich diesmal mit der Frage beschäftigt, wie die Medien mit Populismus und zunehmend hitzigeren politischen und gesellschaftlichen Debatten umgehen und umgehen sollten. Im vergangenen Bundestagswahlkampf spielten Hass und Hetze eine größere Rolle als in früheren Jahren. Während die Fernsehdebatten „zahmer und zivilisierter“ abliefen, ging es bei öffentlichen Veranstaltungen und im Netz teilweise hoch her, sagt Pörtner. Über die Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock etwa wurde die Lüge verbreitet, dass sie Haustiere verbieten wolle, ihrem Konkurrenten Armin Laschet (CDU) angedichtet, er habe Gelder für die Flutopfer für den Wahlkampf genutzt. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach brauchte Personenschutz.

Unerreichbar für Argumente

Leser Andreas Bauer erwartet, dass seriöse Zeitungen nicht auf dieser Welle mitschwimmen, sondern sachlich und unaufgeregt über das berichten, was wichtig ist. Er habe sich durch die Stuttgarter Zeitung gut über die Parteien informiert gefühlt. „Soziale Blasen sind eine Gefahr für die Gesellschaft und die Demokratie, weil sie sich leicht aufschaukeln und radikalisieren.“

Woher kommen all diese Aggressionen?, fragt sich Andrea Asche. Sie beobachtet, dass sich seit dem Ausbruch von Corona in ihrer Umgebung manche Personen in eine „Wohlfühlumgebung“ zurückgezogen haben und für offene Diskussionen und sachliche Argumente nicht mehr erreichbar sind. Diese Erfahrung hat auch Florian Häußermann gemacht. Seine Versuche, mit Corona-Demonstranten ins Gespräch zu kommen, seien immer wieder gescheitert. Hinweise auf Berichte in der Stuttgarter Zeitung oder den öffentlich-rechtlichen Sendern seien abgetan worden – das seien Systemmedien, denen man nicht trauen könne.

Zu viel Raum für Populisten

Doris Helzle sieht die Verantwortung für diese Entwicklungen auch bei den seriösen Medien und verweist auf den Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Indem diese immer wieder versucht hätten, Donald Trumps Lügen aufzudecken und Dinge richtigzustellen, hätten sie ihm zu viel Raum gegeben und die Situation angeheizt. Ähnliches beobachtet Helzle auch bei der Berichterstattung über die AfD. Sie wünscht sich weniger Aufregung und auch weniger Warnungen vor allen möglichen Risiken. „Wir brauchen nicht nur ein Immunsystem gegen Corona, sondern auch gegen die Schwierigkeiten im Leben. Nur so lernen wir Toleranz.“

Aus Sicht von Lukas Robert haben die sozialen Netzwerke einen großen Anteil an der Zuspitzung. Viele Nutzer hätten sich daran gewöhnt, bei allen möglichen Fragen den Daumen zu heben oder zu senken. Für Zwischentöne und Kompromisse gebe es in ihrem Denken deshalb keinen Platz mehr. „Wir brauchen wieder eine andere Fehlerkultur“, meint Christoph Scharf. So sei im vergangenen Bundestagswahlkampf jeder noch so kleine Fehler der Kandidaten ausgeschlachtet und die Betroffenen niedergemacht worden.

Corona und Klimakrise

Worüber und wie berichtet wird – diese Aufgabe stelle sich in den Redaktionen jeden Tag neu, sagt Chefredakteur Joachim Dorfs. „Wir springen nicht über jedes Stöckchen.“ Oft sei es aber schwierig einzuschätzen, wie sich Ereignisse entwickeln. Selbst die VfB-Präsidentschaft könne zum Politikum werden. Vor Jahren prallten Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 aufeinander, derzeit spalten vor allem Corona und Klimakrise Kollegen, Nachbarn, Familien. Die üblen Kommentare, die die heutige Vorsitzende der Grünen Jugend als 14-Jährige ins Internet stellte, wären kein Thema für die Zeitung gewesen, wenn die Autorin dafür nicht jetzt – Jahre später – mit dem Tod bedroht würde, erklärt Dorfs. Die Anforderungen an die Redaktionen sind hoch, sagt die Vize-Chefredakteurin Anne Guhlich. Eine gründliche Recherche ist unverzichtbar und wird auch geleistet. Sich nicht nur auf offizielle Mitteilungen und Zahlen zu verlassen, zählt seit jeher zum Handwerkszeug guter Journalistinnen und Journalisten.

Was die Leserinnen und Leser denken

Leserbeirat
 Seit 2014 hat die Stuttgarter Zeitung einen Leserbeirat. Zwei Mal im Jahr diskutieren die 13 Männer und Frauen mit Mitgliedern der Redaktion über das Blatt und bringen ihre Kritik und Wünsche ein.

Themen
 Bei den letzten Treffen standen Wahlen im Mittelpunkt – Oberbürgermeister, Landtag und Bundestag. Beim nächsten Mal geht es um Europa.