Ein bisher unbekannter Roman von Siegfried Lenz aus seinem in Marbach verwahrten Nachlass wird als Sensation gefeiert. Was hat er uns heute noch zu sagen?

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Im Herbst 2014 reiste Siegfried Lenz nach Marbach, um die letzten Regelungen für seine Unsterblichkeit zu treffen. Er vermachte dem Deutschen Literaturarchiv seinen Nachlass. Aber wer hätte gedacht, dass sich darin ein kompletter, noch unveröffentlichter Roman des im letzten Jahr gestorbenen Autors finden würde. Ein kapitaler Fang, wie man in der Anglersprache sagen könnte, die vermutlich kaum einer so perfekt beherrschte wie der passionierte Freizeitfischer, der in diesem – seinem wie man nun weiß zweiten – Buch in einem Kapitel ausführlich den vergeblichen Versuch beschreibt, einen widerspenstigen Hecht an Land zu ziehen.

 

Wie es zuging, dass Lenz‘ 1951 entstandener Roman aus dem Element des Privaten erst jetzt ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden konnte, ist eine Geschichte für sich, die freilich aufs Engste mit dem zusammenhängt, was der junge Autor, der ein Jahr zuvor mit dem Roman „Es waren Habichte in der Luft“ erfolgreich debütiert hatte, hier erzählt. Denn offenbar war das junge alte Adenauer-Deutschland noch nicht reif für einen Roman, in dem die Gewissensnöte und -gebote eines Soldaten beschrieben werden, der in den letzten Kriegsmonaten die Seiten wechselte, um der „abscheulichen Klicke“ eine Ende zu bereiten, die die Welt mit Krieg und Vernichtung überzogen hat.

Lenz beugte sich den Einwänden seines Lektors nicht

Nun endlich kann man lesen, was Lenz‘ Lektor Otto Görner beim Hofmann & Campe Verlag nach anfänglicher Begeisterung brüsk zurückweisen zu müssen glaubte: „Sie können sich maßlos schaden, da helfen ihnen auch ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht“, beschied er dem eben gestarteten 25-jährigen Jungautor, der bei der Tageszeitung „Die Welt“ volontiert hatte. „Der Roman müsste tatsächlich den Titel ,Der Überläufer‘ tragen – und das wäre unmöglich. So ein Roman hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein.“ So der Lektor, dessen Änderungswünsche vor der ideologischen Mobilmachung des heraufziehenden Kalten Kriegs in die Knie gingen und der als einstiges Mitglied der SS wohl wusste, wie es sich damit lebt, es nicht gewesen sein zu wollen.

Lenz blieb unbeugsam. Er hatte den Roman bereits einer zweiten Bearbeitung unterzogen, einzelne Kapitel hinzugefügt, und den ursprünglichen Arbeitstitel „. . . da gibt’s ein Wiedersehen“ durch „Der Überläufer“ ersetzt. Den Roman, den sich der Lektor wünschte, wollte er nicht schreiben. Er zog es vor, sein Manuskript für sich zu behalten, die Arbeit, wie er in einem noblen Antwortbrief schrieb, als „unerlässliche Übung“ anzusehen. Und während ihm vier Jahre später mit den Geschichten aus seiner masurischen Heimat „So zärtlich war Suleyken“ ein erster Bestseller-Erfolg beschieden war, er sich später mit Erzählungen wie das „Feuerschiff“ oder dem Roman „Die Deutschstunde“ in den Kanon einschrieb und dank der Lehrpläne und zahlreicher Verfilmungen zu dem deutschen Autor mit der vielleicht größten Breitenwirkung heranreifte, schlummerte sein „Überläufer“ vor sich hin. Bis er nun beglückten Archivaren bei ihrer Jagd im Nachlass an die Angel ging.

Kujoniert von einer Schnapsdrossel

Auch posthum erfreut sich der Autor offenbar bester Beziehungen zur Presse. Unbeirrt von Sperrfristen feiern bereits seit der letzten Woche mehrere Zeitungen den Roman, der ursprünglich erst an diesem Donnerstag erscheinen sollte. Der ungewöhnliche Umstand, dass ein komplettes, neues Werk eines modernen Klassikers das Licht der Welt erblickt, mag diese Ungeduld entschuldigen. Und doch sollte man sich über der allgemeinen Euphorie nicht von einer genauen Lektüre abhalten lassen. Denn möglicherweise gehört es zur Tragik dieses Romans, dass sich seine Bedeutung nur aus jener historischen Situation erhellt, aus der ihn der zeitverhaftete Kleinmut seines Verlags katapultiert hat. Anders ausgedrückt: dass er seiner Zeit mehr zu sagen gehabt hätte als nun 64 Jahre später.

Man betritt diesen um seine Wirkungsgeschichte geprellten Roman wie ein Haus, das nie bewohnt war, und über dessen historisches Interieur sich die Spinnweben gelegt haben. Lenz erzählt die Geschichte des jungen Soldaten Walter Proska, der wie der Autor aus dem masurischen Lyck stammt. Im letzten Kriegssommer gerät er nach einem Heimaturlaub in einen Hinterhalt von Partisanen, überlebt und wird zu einer versprengten Einheit der Wehrmacht verschlagen, die auf verlorenem Posten, kommandiert und kujoniert von einer unmenschlichen Schnapsdrossel namens Stehauf, die Bahnlinie gegen die vorrückende Rote Armee verteidigen soll.

In der moralischen Sackgasse

In dem schwül-gärenden Sumpfgebiet, in dem sich die Soldaten gegen die überall lauernden Partisanen verbarrikadiert haben, blühen Langeweile, Grausamkeit, kauzige Marotten und auch manchepathetische Stilblüte auf: „Wir sollten den Dung der Freiheit in die Herzen karren und darauf die Skepsis pflanzen“, so klingen die Gespräche mit Proskas intellektuellem Leidensgenossen, der den landserhumorigen Spitznamen Milchbrötchen trägt. Lenz‘ späteres „Deutschstunden“-Thema der Pflicht wird angeschlagen: „Dieses Zeug haben sie uns unter die Haut gespritzt. (. . .) Die haben versucht, uns durch eine raffinierte Injektion von Pflichtserum besoffen zu machen.“

Doch solche klaren Sentenzen werden immer wieder überwuchert von animistischem Naturschwulst und der Liebesaffäre mit einer schönen Partisanin, deren lüstern-verschwitzter Kitsch mehr gegen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit verstößt als gegen die mühsam konstruierten Nöte des Gewissens. Lenz zeigt sich hier als Suchender zwischen neuen und abgelegten Stilformen, die Füße stecken noch im Morast schicksalstriefender Kriegsliteratur, während den Kopf bereits ein neuer Wind streift, eine Prise Existenzialismus, ein Hauch von Hemingway.

Sensation aus dem Archiv

Durch die von Lenz in der erwähnten Überarbeitung eingefügten Kapitel wird der Partisanenroman im zweiten Teil zum Überläuferroman. Auch wenn die Motivation letztlich unscharf bleibt, die Proska bewegt, dem Schritt seines Freundes Milchbrötchen auf die andere Seite zu folgen, finden sich auch hier deutliche Sätze: „Wer nur immer sagt: Ich bin gegen den Krieg und es dabei bewenden lässt und nichts außerdem tut, damit der Krieg ausgerottet wird, der gehört ins pazifistische Museum.“

Doch der Mut wird konterkariert durch die Rahmenhandlung: Proska trägt eine Schuld durchs Leben. Als Überläufer hat er seinen Schwager getötet, gewissermaßen ein Fluch der guten Tat. Der unauflösliche Schicksalskonflikt relativiert die Kühnheit seines Schritts. Indem Lenz seinen Helden in die moralische Aporie laufen lässt, kommt er jenen zeitgenössischen Lesern insgeheim entgegen, denen sein Lektor das Buch nicht zumuten zu können glaubte. In dieser Fassung wird das Skandalon der Desertion für sie erträglich. Wie auch die kafkaeske Zeichnung der von der neuen sozialistischen „Klicke“ etablierten menschenverachtenden Verwaltung durchaus der Stimmung zu Beginn der Ost-West-Konfrontation entgegenkommt.

Diese Zeitverhaftung schmälert die Sensation, als die die Entdeckung gefeiert wird, ein wenig. Es ist ein Fang aus den Tiefen des Archivs: Er nährt die Philologie besser als den heutigen Leser.