Janine Wissler, die Vorsitzende der Linkspartei, will die Partei vom Image der „Putin-Versteher“ befreien und wählt im Gespräch mit unserer Zeitung dafür deutliche Worte.

Frau Wissler, die Linke wollte eigentlich im Herbst 2022 die erwartete Protestwelle nutzen, um sich zum Sprachrohr der Unzufriedenen zu machen. Aber weder wurde die Linke zum Sprachrohr, noch gab es nennenswerten Protest. Wie erklären Sie das?

 

Wir wollten, dass es für die erhöhten Energie-, aber auch Lebensmittelpreise einen gerechten Ausgleich gibt. Unser Druck hat da durchaus etwas bewirkt. Die Ampel führte, wenn auch halbherzig, eine Gaspreisbremse ein, die Energiepauschale wurde auf Studierende und Rentner ausgeweitet. Das geht alles nicht weit genug. Aber die Ankündigung eines „heißen Herbstes“ hat die Regierung unter Handlungsdruck gesetzt. Unsere Kritik ist, dass sie dabei nur an den Symptomen kuriert und nicht an die Ursachen rangeht.

Die Ampelregierung betreibt eine durchaus offensive Sozialpolitik und gräbt Ihnen damit das Wasser ab: Mindestlohn, Gaspreisdeckel, Entlastungspakete.

Parteipolitik ist ja kein Selbstzweck. Wir begrüßen jede Reform, die das Leben der Menschen verbessert. Aber die Ampel macht leider keine linke Politik. Ein Beispiel: Dass die Preise so enorm gestiegen sind, liegt nicht nur am Ukraine-Krieg. Es liegt auch an der Spekulation, an der Marktmacht der großen Konzerne. Da wagt sich die Regierung nicht ran, eine Übergewinnsteuer, wie in anderen Ländern, gibt es nicht. In Sachen Umverteilung, der Steuerpolitik, einer breiten Investitionsoffensive - da geschieht gar nichts. Spielraum für linke Politik gibt es also genug.

Mit welcher Hauptforderung wollen sie den in diesem Jahr ausfüllen?

Das Land braucht dringend Investitionen. Sparzwang, Kürzungsdruck und Schuldenbremse haben dazu geführt, dass die Infrastruktur in vielen Bereichen marode ist. Es ist enorm viel kaputtgespart worden. Das sieht man an den Schulen und auch in den Krankenhäusern deutlich. Wie kann es sein, dass Deutschland in den 50er-Jahren ein besser ausgebautes Schienennetz hatte als heute? Bahnhöfe sind heruntergekommen, Züge nicht funktionsfähig, zahlreiche Brücken sind Sanierungsfälle, es fehlen Wohnungen. Konservative sagen uns immer, wir dürften nachfolgenden Generationen keine Schulden vererben. Aber eine komplett heruntergewirtschaftete Infrastruktur – die dürfen wir offenbar übergeben. Das hat mit Generationengerechtigkeit nichts zu tun.

Wo soll das Geld dafür herkommen?

Es gibt genug Geld in diesem Land. Es ist aber ungerecht verteilt. Selbst in der Krise hat die Zahl der Vermögensmillionäre zugenommen. In einer so reichen Volkswirtschaft kann und muss man Geld umverteilen: zum Beispiel durch eine Übergewinnsteuer. Sehr hohe Vermögen müssen zudem stärker besteuert werden. Wohlgemerkt, da geht es nicht um Menschen mit Einfamilienhaus oder Besitzer von zwei Eigentumswohnungen. Es geht um die wirklich hohen Vermögen. Es gibt eine dreistellige Zahl von Milliardären in Deutschland. Es ist zutiefst ungerecht, wenn Pflegekräfte Angst vor Altersarmut haben müssen, aber Erben anstrengungslos Milliarden auf dem Konto verbuchen dürfen.

Man hat nicht nur im Fall Lützerath den Eindruck, dass die Linke versucht, den Raum politisch zu besetzen, der von den Grünen nicht mehr besetzt wird: auch in der Umweltpolitik.

Für mich ist das eine Frage der Überzeugung, nicht der politischen Strategie. Der Schutz der Umwelt und der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist eben auch eine elementare soziale Frage: Wer wohnt denn zum Beispiel an stark befahrenen Straßen. Das sind die Menschen, die sich Wohnlagen im Grünen nicht leisten können. Sie müssen die Schadstoffe, die gesundheitlichen Belastungen ertragen. In Stuttgart können Sie das doch sehr gut beobachten. Klimawandel bedeutet Naturkatastrophen, Dürre und Hunger. Die Zeche dafür bezahlen immer zuerst die Armen. Neu ist nicht, dass die Linke für Klimaschutz ist. Neu ist, dass die Grünen sich aus der Klimabewegung zurückziehen. Lützerath ist dafür ein Symbol.

Die Linke ist gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie hält das für eine Eskalation des Konflikts. Aber ist es nicht gerade umgekehrt: Würde eine weniger wehrhafte Ukraine nicht Russland zusätzlich ermutigen, den Krieg weiterzutreiben?

Ganz klar: Russland ist für diesen Krieg verantwortlich. Es handelt sich um einen völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine. Die Angriffe auf Wohnhäuser und Infrastruktur sind ein Verbrechen. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. In Sachen Waffenlieferungen befinden wir uns auf einer gefährlichen Rutschbahn: Erst redeten wir über Defensiv-Waffen, was ohnehin ein zweifelhafter Begriff ist. Dann ging es um die Geparden, dann die Marder. Jetzt liefert Deutschland Leopard-Kampfpanzer. SPD-Chef Klingbeil betont bereits, es gebe keine rote Linie. Was also, fragen wir, kommt als nächstes - Kriegsschiffe, Kampfflugzeuge, atomwaffenfähige Jets? Wir haben die große Sorge, dass durch die konstante Lieferung immer schwererer Waffen die Gefahr der Ausweitung des Konfliktes immer größer wird. Man kann in eine direkte Kriegsbeteiligung auch hineinschlittern. Wir müssen wegkommen von diesem militärischen Tunnelblick. Wir müssen andere Länder wie China und Indien ins Boot holen, um den Druck auf Russland zugunsten einer diplomatischen Lösung zu erhöhen. Wahr ist auch: Keiner hat eine Garantie, dass das funktioniert. Aber es muss alles versucht werden auf diplomatischem Weg.

Glauben Sie nicht, dass Russland ohne zu zögern ausnutzt, wenn die Ukraine militärische Schwäche – mangels Waffen - zeigt?

Man muss sich aber auch fragen, was eine Atommacht tut würde, die vor einer militärischen Niederlage stünde, das ist vollkommen unberechenbar. Unser Eintreten für Verhandlungen ist keine Parteinahme für Putin. Er hat Rechtsradikale in ganz Europa unterstützt, unterdrückt im eigenen Land die Opposition. Das ist grauenhaft. Wer mit einem Geiselnehmer verhandelt, um das Leben von Geiseln zu schützen, legitimiert damit nicht die Geiselnahme. Ziel muss sein, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, das geht nur durch Verhandlungen. Eine schnelle militärische Entscheidung wird es nicht geben, da sind sich alle Experten einig.

In der Linkspartei geht das Gespenst einer Spaltung um. Glauben Sie, dass Sarah Wagenknecht den Absprung vorbereitet? Ihre Unterstützer haben jedenfalls schon aktiv die Chancen sondiert.

Die allermeisten Mitglieder der Partei wissen, welche Errungenschaft eine geeinte und plurale Linkspartei darstellt und dass eine Spaltung keine Aussicht auf Erfolg hätte. Einige haben Gedankenspiele angestellt. Konkrete Pläne und breitere Unterstützung dafür sehe ich nicht.

Wäre es nicht sogar hilfreich für die Partei, wenn Wagenknecht endlich ginge. Es wäre doch eine saubere Lösung?

Ich werbe nicht dafür, dass Menschen die Partei verlassen. Im Gegenteil. Ich kämpfe für eine plurale Linke, die unterschiedliche Positionen und Strömungen vereint. Ich möchte, dass das so bleibt. Aber Breite heißt nicht Beliebigkeit. Wer für die Partei spricht, muss sich an die Beschlusslage der Partei halten.

Was eint denn die Linke heute noch?

Vieles. Im Kern: Wir kämpfen für Gerechtigkeit. Das ist das Leitthema. Deshalb treten wir für bezahlbare Mieten, gute Bildung und höhere Löhne ein. Wir wollen, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Und da gibt es noch eine ganze Menge zu tun für uns.