Limitiert auf 1000 Exemplare, eine bibliophile Gestaltung der Extraklasse und literaturwissenschaftlich bedeutsam: Der Steidl Verlag bringt erstmals eine vollständige Günter-Grass-Werkausgabe in 24 Bänden heraus. Der Nobelpreisträger hatte noch selber mitgewirkt.

Lübeck/Göttingen - Für den Jahrhundertschriftsteller Günter Grass hat sich sein Verleger Gerhard Steidl noch einmal mächtig ins Zeug gelegt. Fünf Jahre nach dem Tod des Literaturnobelpreisträgers (1927-2015), der mit der „Blechtrommel“ weltberühmt wurde und politisch immer wieder scharf Zunge zeigte, bringt Steidl erstmals eine komplette Werkausgabe heraus. Fast alles daran ist außerordentlich: 24 Bände, knapp 11 000 Seiten, eine limitierte Auflage von nur 1000 Exemplaren – und das alles in einer bibliophilen Ausstattung, wie sie viele in der Literaturszene nur Steidl zutrauen.

 

Laut Steidl sind die Werke von Grass in etwa 40 Sprachen übersetzt worden. Die Weltauflage liege bei rund 40 Millionen. Der Verleger spricht von einer Werkausgabe „letzter Hand“. Grass habe selber noch seine Ideen eingebracht zur Gestaltung, aber auch, durch Leser aufmerksam gemacht, bis 2015 in Zusammenarbeit mit seinen Lektoren Korrekturen in seinen Texten vorgenommen. Die „Neue Göttinger Ausgabe“ (NGA) enthält sämtliche von Grass autorisierten literarischen Werke, Essays und Gespräche. Sie basiert auf der Göttinger Ausgabe von 2007, in der es, wie auch Thomsa sagt, „ärgerliche Fehler“ gab, die jetzt ausgemerzt seien. Die Vorläufer – 1987 war eine zehnbändige Werkausgabe bei Luchterhand und in den 1990er Jahren eine Werk-Studienausgabe bei Steidl erschienen – galten in der Literaturwissenschaft ohnehin als unzureichend.

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„Grass ist Zeit seines Lebens ein idealer Buchgestalter gewesen“, sagt Steidl. „Denn vom ersten Buch an, „Die Vorzüge der Windhühner“, bis zu seinem letzten Buch „Vonne Endlichkeit“ und sogar bis hin zur neuen Werkausgabe hat er als Autor, als Leser vieler Bücher, und auch als bildnerisch-kreativer Mensch Ratschläge gegeben – uns Technikern, die wir die Bücher für ihn gemacht haben.“ Und Steidl erinnert sich: „Für die Werkausgabe hat Günter Grass bewusst eine etwas größere Schrift ausgewählt: „Wir müssen auch an die Leute denken, die eine Brille haben“.

Bester Büchermacher Deutschlands

Das extra dünne französische Bibeldruckpapier für die NGA hat Grass noch gemeinsam mit Steidl bemustert. „Er hat gesagt, das ist angenehm zu lesen, die Augen ermüden nicht, weil es schön gelblich ist. Und es hat ihn erfreut, dass das Papier knistert, wenn man es zwischen den Fingern hat.“ Die Werkausgabe sollte nicht zu groß und schwer werden. Bei einem Papier von 80/90 Gramm wären 24 Bände ungefähr 1,20 Meter breit. „Und mit diesem feinem Bibeldruckpapier von 50 Gramm kommen wir auf 47 Zentimeter Breite“, sagt Steidl. Platz im Regal sei bei jedem Büchernarren knapp und und beim Umziehen wolle niemand gern schwere Bücher mitschleppen. „Unmittelbar vor seinem Tod habe ich Grass noch zur neuen Werkausgabe gesagt: „Wir machen sie ganz elegant, so leicht wie möglich, aber gut lesbar.““

Sogar auf die handgefertigte Holzbox für die 24 Bände – „sie kostet fast soviel wie ein kleiner Tisch“, sagt Steidl lachend – habe Grass ihn aufmerksam gemacht. Er habe dafür eine kleine Werkstatt im Bayerischen ausfindig gemacht. „Dass ich das nicht vergessen habe, hätte Günter Grass besonders amüsiert.“

Der Leiter des Günter Grass-Hauses Lübeck, Jörg Philipp Thomsa, hält den gelernten Siebdruck-Meister Steidl für „den besten Büchermacher Deutschlands“, der diese Handwerkskunst noch lebt und erhalten will. Neben der besonderen bibliophilen Ausstattung in roten Leinenbänden – die Göttinger Ausgabe von 2007 war in Blau gehalten – hat die NGA literaturwissenschaftlich große Bedeutung. „Die neue Ausgabe enthält erstmals alle literarischen Texte und – soweit erhalten und erreichbar – alle Reden, Essays und Gespräche von Günter Grass“, betont der Göttinger Germanist Prof. Heinrich Detering. „In der älteren „Göttinger Ausgabe“ 2007 fehlen nicht nur die seitdem entstandenen Texte, sondern auch einige frühere Texte. Vor allem aber ist die Wiedergabe der Texte an vielen Stellen unzuverlässig: lückenhaft, ja fehlerhaft. Die neue Ausgabe bietet Grass‘ Gesamtwerk erstmals in sorgfältig geprüfter, zuverlässiger Textgestalt.“

Neue Generation jüngerer Leser

Herausgeber sind die Philologen Dieter Stolz und Werner Frizen. Stolz sei einer der besten Kenner von Grass‘ Werk, sagte Detering. Er habe zeitweise eng mit Grass zusammengearbeitet, zum Beispiel bei den Recherchen für den Roman „Ein weites Feld“, aber auch in der Gründung und Redaktion des literarischen Jahrbuchs „Freipass“. Frizen sei Kennern schon durch seine Edition und Kommentierung unter anderem von Werken Thomas Manns, aber auch der Gedichte von Grass bekannt. „Beide haben in der aufwändigen akribischen Arbeit, die für eine solche Ausgabe erforderlich ist, die berühmten ebenso wie unbekannte und entlegene Texte erschlossen“, betont Detering.

Die Günter und Ute Grass Stiftung in Lübeck, die die Urheberrechte wahrt, zeigt sich erfreut, dass jetzt „eine vollständige, gründlich durchgesehene Ausgabe des literarischen Werks“ erscheint, „die zukünftig „die“ zitierfähige Referenzausgabe sein wird“.

Steidl hat die NGA bewusst ohne wissenschaftlichen Apparat konzipiert – des unbeschwerten Lesegenusses wegen. Im nächsten Jahre bereits sollen 14 Kommentarbände erscheinen zum gesamten literarischen Werk, zu den großen Romanen ebenso wie zu den wenig bekannten Theaterstücken, den Gedichten oder der kurzen Prosa. „Dabei werden zu allen Texten die Zusammenhänge der Entstehungsgeschichte, der Konzeptionen und Wirkungsabsichten und der kritischen Aufnahme erläutert“, sagt Detering. „Es finden sich aber auch alle für das Verständnis erforderlichen Wort- und Begriffsklärungen. In ihrer Gesamtheit werden diese Kommentare zweifellos neue Zugänge zu Grass‘ Werk eröffnen – weit über die bekannten Themen hinaus.“

Wichtig scheint Detering, dass jetzt eine neue Generation jüngerer Leser sich dem Werk mit einem frischen Blick nähert. „Allzu lange ist Grass – nicht ganz ohne sein eigenes Verschulden – allein als ein politischer Autor wahrgenommen worden, als öffentlicher Mahner und Mäkler. Der große Poet, der Künstler Grass ist dabei manchmal fast in Vergessenheit geraten. Ihn gilt es mit dieser Ausgabe neu zu entdecken.“

„Gut gemacht, Steidl!“

Im Lübecker Grass-Haus werde die neue Werkausgabe dauerhaft präsentiert, kündigt Thomsa an. Dass die unveröffentlichten Tagebücher von Grass in der NGA nicht enthalten sind, kann Thomsa verstehen. Grass habe diese Tagebücher für sich privat geschrieben und nicht als literarische Werke betrachtet. Und die Günter und Ute Grass-Stiftung habe sich gegen eine Veröffentlichung entschieden. Steidl hält die Tagebücher ohnehin für ein Genre, das nicht in die Werkausgabe gehöre.

Im Oktober finden in Göttingen mehrere Veranstaltungen im Rahmen des „Göttinger Literaturherbstes“ in Zusammenarbeit mit der Universität Göttingen und dem Steidl Verlag statt. Eine Ausstellung über das Büchermachen mit Grass und Steidl, ein Kolloquium, das vor allem von jüngeren Literaturwissenschaftlerinnen getragen werden soll, die sich derzeit in einem von Detering geleiteten Forschungsprojekt mit Grass als Autor und Buchkünstler beschäftigen – „also mit den Zusammenhängen zwischen Texten und der Präsentation in Büchern, die Grass mit Steidl gewissermaßen als Gesamt-Kunstwerke gestaltet hat“, erläutert Detering. Die Werkausgabe wird am 27. Oktober mit einer Lesung der Schauspielerin Anna Thalbach präsentiert.

Auf die Frage, was Grass wohl zur jetzt vorliegenden NGA gesagt hätte, antwortet Steidl lachend: „Also ich hätte die Werkausgabe in der schönen Holzbox ins Auto gepackt und wäre zu ihm nach Behlendorf gefahren und hätte sie auf den kleinen Tisch in seiner Werkstatt gestellt. Und dann hätte er sich eine Pfeife angezündet, Bände herausgenommen, das Papier geblättert und angefasst und die Kassette hin- und hergewendet. Und dann hätte er – hoffe ich und ich bin mir sogar ganz sicher – gesagt: ,Gut gemacht, Steidl!’“