Kultur: Stefan Kister (kir)

Den Aufstieg zur Verità unternahmen die Autoren von unterschiedlichsten Seiten. Man kann nicht sagen, dass jeder oben ankam. Manche wie Terezia Mora oder Jerôme Ferrari endeten dort, wo sie in jedem beliebigen Literaturhaus enden könnten: im eigenen Werk ohne plausible Verbindung mit dem Ganzen. Schön war es trotzdem. Manchmal nämlich führen gerade die obskursten Umwege auf den Gipfel der Weisheit. Hatte Pamuk das intime Gedächtnis der Dinge beschworen, die er in seinem Istanbuler Museum der Unschuld versammelt, so zauberte der Schriftsteller Thomas Hürlimann aus einem extra für den Vortrag im Supermarkt erworbenen roten Regenschirm das Denken Friedrich Nietzsches hervor. Jeder Schirm vereinige nämlich die zentralen Gegensätze in sich: in dem baldachinartigen oberen Teil das Himmelsgewölbe mit der Erde in der Schlangengestalt des gekrümmten Stabes. So gesehen seien Schirme Mittelwesen wie Engel. Nietzsches Denken wiederum beruhe auf der Erkenntnis, dass es eine Grenze zwischen oben und unten nicht gebe, beide seien vielmehr eins, alle Gegensätze lösen sich im Menschen auf, dieser „unbeschirmten Schirmexistenz“. Endlich fällt ein Licht auf den bis dahin rätselhaften, nun aber zentralen Satz in der Werkausgabe: „Ich habe meinen Regenschirm vergessen.“

 

Nach solcher fröhlichen Wissenschaft vom Übermenschen ist man bestens präpariert für das gewaltige Werk, das Raoul Schrott am letzten Tag vorstellt. Nachdem der österreichische Dichter und universalgelehrte Ursprachler zuletzt mit einer Übersetzung der ältesten Quelle der griechischen Literatur, Hesiods „Theogonie“, hervorgetreten ist, arbeitet er seit fünf Jahren daran, auf der Basis fortgeschrittenster wissenschaftlicher Erkenntnisse die Entstehung der Welt neu zu erzählen. Schrott, in dessen bärtiger Erscheinung Hesiod, Karl May und Reinhold Messner zusammenfinden, erzählt von der Recherche zu seinem „Epos Erde“: von den Reisen zum ältesten Gestein in den Wüsten Australiens, von Begegnungen mit wilden Bären und dem Blick in die alten Abgründe der Zeit. Man hätte ihm Milliarden Jahre zuhören können. Und dann waren sie doch noch da: die Nackten. In einem alten Luftbadehaus wurde ein Freskenzyklus Elisar von Kupffers aus der goldenen Zeit am Monte Verità geborgen. Lauter tanzende Hermaphroditen, in denen sich die Gegensätze verflüssigt haben. Irgendwie erinnern sie an einen roten Regenschirm.