Die ganz gewöhnlichen Menschen liegen ihr am Herzen, die kleinen Leben, in denen das Spektakuläre ausgespart bleibt: der Nobelpreis geht an die kanadische Autorin Alice Munro. Eine Würdigung.

Stockholm - Sie ist ein Glücksfall in der zeitgenössischen Literatur. Alice Munro macht das, was sie kann, und das erledigt sie einzigartig. Der große, ausufernde, episch breit ausgemalte Roman liegt ihr nicht, sie beschränkt sich auf die kleine Form der Erzählung. Damit kann sie mit den Größten des Genres mithalten, mit Anton Tschechow oder Katherine Mansfield. Die ganz gewöhnlichen Menschen liegen ihr am Herzen, die kleinen Leben, in denen das Spektakuläre ausgespart bleibt.

 

Solchen Existenzen passt sich Munro an, indem sie sich einer unaufgeregten Sprache bedient. So ist das eben, Allerweltsmenschen in einer durchschnittlichen Welt. Aber eine solche Biografie muss nicht öde bleiben auf alle Zeit. Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit, ein unglücklicher Umstand, der einen vom gewohnten Kurs abbringt, unangenehme Menschen, die unvermutet Einfluss nehmen und die Normalität zum Kippen bringen – schon widerfährt einem etwas, womit nicht zu rechnen war, und von einem Augenblick auf den anderen sieht die Wirklichkeit für einen von Grund auf verwandelt aus. Damit müssen Munro’sche Figuren erst einmal fertig werden.

Diese Autorin hat den gnadenlosen Blick auf Dinge und Menschen, wie eine Naturwissenschaftlerin nimmt sie einen Beobachterstandpunkt ein und beobachtet das Treiben im Ameisenhaufen der Gesellschaft. Gewiss arrangiert sie Szenen, geht sehr kalkuliert vor, wenn sie Schicksale erkundet. Hat sie einmal an einer Person Gefallen gefunden, reicht sie gerne zur Momentaufnahme die ganze Geschichte nach. Mit dem kurzen Augenblick des Unglücks ist es nicht getan, dazu gehört die Vorgeschichte eines Menschen. Wir müssen wissen, welche Erfahrungen jemand in jungen Jahren gemacht hat, um dessen Reaktion später zu verstehen. Und so greift sie in Rückblenden auf frühere Brennpunkte zurück, in denen sich Entscheidendes, vielleicht sogar Prägendes ereignet hat.

Wie viel Mut wächst heran?

„Himmel und Hölle“ heißt im Deutschen ein Erzählband aus dem Jahr 2001 (übersetzt 2004), der den Konflikt in der typischen Munro-Welt definiert. Das Glück und das Unheil, der Wunsch und die Bodenhaftung, der Ausbruch und das Sichfügen bilden eine untrennbare Einheit. Manchmal bedarf es nur einer kleinen, nahezu unscheinbaren Abweichung vom Alltag, und eine Frau gerät außer Tritt, einem Mann eröffnet sich eine neue Welt. Nie hängt es nur von der inneren Verfasstheit ab, ob dieser Mensch den Ausbruch tatsächlich wagt oder sich doch resignierend ins Gewöhnliche fügt, immer spielen die äußeren Verhältnisse mit. Munro ist die Spezialistin der leichten Verschiebungen im Bergwerk der Gefühle. Wir bekommen es mit Zerrissenen zu tun, die oft lange gar nicht wissen, wie angespannt sie sich verhalten, um Unauffälligkeit zu simulieren.

Bei Alice Munro erfahren wir, dass jeder nur ein Leben von vielen möglichen führt. Das wird ihren Figuren erst dann bewusst, wenn sie sich vor Entscheidungen gestellt sehen, die eine ganze Biografie umkrempeln könnten. Wie viel Mut, wie viel Widerstandsgeist wächst in einem heran, dass er sich tatsächlich auf das Risiko von etwas Neuem einlässt?

Versteckte kleine Hinweise

Munro bleibt nah dran an den inneren Kämpfen von Menschen, die ihren Leidenspool auszuschöpfen nicht weiter gewillt sind. Sie führen eine Änderung herbei, ob das schlau war, lässt sie als Erzählerin gerne offen. Es gehört zum Konzept dieses Schreibens, dass die Rätselhaftigkeit des Daseins nicht gelöst wird. Je länger sich Munro mit einem Einzelnen beschäftigt, desto fragwürdiger werden alle Erklärungen, die das Leben als in sich geschlossene Einheit definieren. Das mag einer der Gründe sein, weshalb Munro gegenüber dem Roman ihre Vorbehalte hat. Sie bevorzugt es, Situationen anzudeuten, Indizienketten auszulegen, kleine Hinweise zu verstecken, Fragmente eines Daseins zu verstreuen, die sich weigern, Totalität zu werden. Was einen Menschen zu einem Individuum macht, bleibt stets auf eine seltsame Weise rätselhaft.

Bei Munro, der Fährtensucherin der Gefühle im Dickicht der Existenz, steuert das Erschrecken sanft und unheilvoll auf den Leser zu. So bieder sich manche Figuren nach außen auch immer zu präsentieren verstehen, in ihrem Inneren brodelt es. Sie beschreiten artig den Pfad der Harmlosigkeit, bevor sie die Laufrichtung ändern und sich als Berserker, Mörder und Fieslinge erweisen. Jedem ist alles zuzutrauen. Man muss nur seinen Seelenhaushalt in einen Zustand der Verwahrlosung überführen, und schon geschieht das Ungeheure.

Laut der Vorstellung der 1931 in Wingham in der kanadischen Provinz Ontario geborenen Schriftstellerin Alice Munro sind wir Menschen eine hilflose Spezies. Nach den Prinzipien der Logik und Vernunft ticken wir sowieso nicht. Das lässt sich in einer jüngeren Veröffentlichung, dem Band „Zu viel Glück“ von 2009 (deutsch 2011) überprüfen. Es gibt keinen plausiblen Grund dafür, dass sich ein Mann, der mit seiner schönen Frau auf einem Bauernhof lebt, in eine schroffe, von Alkoholexzessen gezeichnete, eigentlich unwürdige Person verliebt. Plausibilität ist keine Kategorie im Zusammenleben der Menschen, wo die Karten von Zuneigung und Ablehnung ununterbrochen neu gemischt werden.

Es bedurfte einer längeren Anlaufzeit, bevor sich Alice Munro als Autorin bemerkbar machte. 1968, im Alter von 37 Jahren, brachte sie ihren ersten Erzählband heraus, „Tanz der seligen Geister“ (auf Deutsch überhaupt erst 2011 erschienen). Von da an aber ging es Schlag auf Schlag. Vierzehn Bücher zählt das Werk der Mutter von vier Töchtern, zwei Geschichten der Bestsellerautorin bildeten die Grundlage für Verfilmungen.

2009 erhielt sie bereits den internationalen Man-Booker-Preis, mit der bedeutendsten Literaturauszeichnung der Welt für Alice Munro würdigt das Nobelpreiskomitee nun auch die Erzählung als eine literarische Form, in der geistige Höchstleistungen vollbracht werden.