Über Weihnachten und Silvester fasziniert die Darts-WM nicht nur in England die Massen, auch in Deutschland hocken Hunderttausende vor dem Fernseher. Einmalig ist aber das Londoner Vor-Ort-Erlebnis, das einem knalligen Kindergeburtstag für Biertrinker gleicht.

London - Mit jedem Schritt weiter ins Reich der Extreme vibriert das Blut heftiger. Der unermessliche Lärm verdrängt alle Gedanken, Superman torkelt mit einem Zwei-Liter-Eimer voller Bier in den Händen vorbei in den Wahnsinn. Drinnen tanzen Weltraumpiraten mit rosa Meerschweinchen, Pinguine rempeln gelb-blaue Weihnachtsbäume an, Kühe hauen Außerirdische. Mit dem Rücken zum Publikum stehen auf der Bühne im Londoner Alexandra Palace die weltbesten Dartspieler, versuchen sich zu konzentrieren, während um sie herum der totale Party-Overkill herrscht.

 

Tonverstärker sorgen dafür, dass jeder Pfeil, der die Scheibe berührt, auch von jedem der 2500 verkleideten Menschen gehört wird. Was folgt, ist oft pures Gegröle; auf dem Tisch stehend stimmt eine Schlange „Do they Know it’s Christmas“ an, Hunderte johlen mit.

Die Dart-Weltmeisterschaft ist schrill wie der Karneval im Rheinland, so verrückt wie der Ballermann, so alkohollastig wie das Oktoberfest. Zweieinhalb Wochen lang, zwischen Mitte Dezember und Anfang Januar, herrscht Ausnahmezustand im Norden Londons; der Pfeilesport ist eingebettet in eine Partyinszenierung, die ihresgleichen sucht. Die Sause in der Bierhalle kennt kaum Grenzen, die Dart-Profis haben sich daran längst gewöhnt, weil die WM ihnen eine einzigartige Bühne liefert - gerade dank der Unmengen junger Leute. „Dartspieler sind Typen aus allen Klassen, unscheinbare, mit denen man auch mal ein Bier trinken kann, und die werden da begrüßt wie Popstars: Das ist die pure Begeisterung“, sagt Tomas Seyler, selbst einer der besten deutschen Dart-Profis und Teilnehmer an vier Weltmeisterschaften.

Das Spektakel drumherum ist an jedem einzelnen WM-Tag in der britischen Hauptstadt festes Programm, es ist Teil der Strategie, Teil des Marketingkonzepts, das den Entertainmentgedanken in den Fokus stellt. Barry Hearn, Unternehmer, Sportpromoter, durchaus ein Typ Visionär, revolutionierte die Welt des Dartsports als Chef der Profiorganisation PDC grundlegend, sucht und findet ständig weitere Expansionsmöglichkeiten. Wie noch immer in Deutschland galt auch in Großbritannien Dart lange Jahre als verquast, altbacken und ohne große Zukunft, dem oft bemühten Stellenwert als Volkssport auf der Insel zum Trotz. Seine Wurzeln hat der Sport im britischen Arbeitermilieu fernab des großen Geldes, doch Hearn gelang es, neue Zielgruppen zu ködern, ohne die alten vor den Kopf zu stoßen.

Im Gegensatz zu vielen anderen nahm Hearn das Kneipen- und Alkoholimage der Dartszene sogar als Steilvorlage auf. Er sagte sich: Wir geben uns nicht mit Kneipen zufrieden, wir machen riesige Bierhallen auf! Das ging auf. „Er ist ein genialer Stratege und weiß, wie man eine Sportart ins Rampenlicht rückt“, lobt auch Seyler.

Die Befürchtungen, mit den Betrunkenen hole man sich auch die Gewaltbereiten in die Halle, bewahrheiteten sich nicht.

Stattdessen können Hearn und seine Mitstreiter bei der Professional Darts Corporation (PDC) auf beeindruckende Erfolge verweisen: In diesem Winter ist die Halle nach eigenen Angaben immer ausverkauft, das macht insgesamt 50 000 Zuschauer. Das Preisgeld sauste inzwischen hinauf auf 1,25 Millionen Pfund, rund 1,59 Millionen Euro - eine Marke, von der zahlreiche olympische Sportarten weit entfernt sind. Und auch im britischen Fernsehen genießt Dart - oft auch Darts genannt - eine Aufmerksamkeit wie nie: TV-Gigant Sky, der vor einem Jahr erst einen neuen Fünf-Jahres-Rekordvertrag mit der PDC aushandelte, startete einen eigenen Dart-Sender, der bis zum WM-Ende ganztags befüllt wird.

Wie bei einer Fußball-Weltmeisterschaft sitzen die Sky-Experten auf einer extra errichteten Empore im Alexandra Palace und diskutieren stundenlang über Taktiken, Stärken und Schwächen der WM-Spieler. „Die Übertragungen brechen Einschaltquotenrekorde, vom Umfang her kann da auch das ZDF mit seiner olympischen Berichterstattung nicht mithalten“, sagt Jyhan Artut, zurzeit bester deutscher Dartprofi, bei der WM in der ersten Runde aber am Freitag von Englands Ikone Phil Taylor geschlagen. Sogar im deutschen Fernsehen berichtet Sport1 rekordverdächtige 70 Stunden live. „Die Expansion, die wir machen, wäre nicht möglich ohne die Unterstützung unserer Sponsoren, Partner und der Sender“, sagt Hearn. Die aber sind nur deshalb alle eingestiegen, weil die Show beim englischen Zuschauer bestens ankommt, weil die Atmosphäre authentisch ist und das Produkt rund.

Das Spektakel hat im Laufe der Zeit Helden wie Phil Taylor kreiert, einen Mitfünfziger mit lichtem Haaransatz und ausgeprägtem Bierbauch. Taylor, 16-maliger Weltmeister und dank seiner Erfolge inzwischen Multimillionär, kommt nicht als abgehobener Promi-Snob rüber wie Top-Sportler aus vielen anderen Bereichen. Er wirkt wie Mister X, wie ein Normalo, den man abends in der Stadt trifft, mit dem man spontan ins Pub gehen und über das Leben plaudern könnte. Das macht ihn auch für viele Gelegenheits-Dartgucker sympathisch. „In ein paar Jahren wird Darts genau so weit sein wie Golf oder Tennis, der Sport wächst“, prophezeit der 54-Jährige. Ans Aufhören denkt er noch lange nicht, warum auch? „Der Dartsport hat kein Ablaufdatum, es ist kein Ende in Sicht, wann dieser Mann jemals schlechter wird“, sagt Seyler.

Mit wilden Schwenks durch die abgedunkelte West Hall und wuchtiger Einlaufmusik, die aus den lärmenden Boxen tief in die Gehörgänge jedes einzelnen Zuschauers dröhnt, geht es jedesmal aufs Neue los. Wie beim Boxen, in dem Barry Hearn ebenso wie auch in den Nischensportarten Snooker oder Angeln engagiert ist, werden die Dartspieler von zwei bis ins Letzte aufgemotzten Hostessen auf die Spielbühne begleitet. Oben renken sich schon seit Minuten allzu dünn bekleidetet Cheerleader vor den Massen der Partymacher nach Kräften. Wenn die Darts fliegen, hält der Hallensprecher alle, die nicht hingucken wollen oder es nicht mehr können, mit heiserer Stimmen im Fünf-Sekunden-Abstand auf dem Laufenden: „What a great performance!“

Die Menschen selbst halten Pappschilder im DIN-A3-Format hoch und in die Fernsehkameras; gesponsert vom Hauptsponsor William Hill, einem der führenden Buchmacher Englands. Mit reichlich Platz, um irgendwas draufzukritzeln: „Tarts with Darts“ (Tussies mit Darts!), „Boom, no kids allowed“ (Keine Kinder zugelassen!), „Christmas starts at the Ally Pally“ (Weihnachten startet im Alexandra Palace!). Was die eifrigen Werber auch noch auf die Biertische gelegt haben: blaue Nikolausmützen, die kaum genutzt werden, da nahezu jeder ja sowieso sein eigenes Kostüm mitgebracht hat, und Infoflyer für das „German Bier Festival“ Anfang April 2015 in derselben Mehrzweckhalle. Das Early-Bird-Ticket gibt es schon ab 12 Pfund, VIP-Karten ab 35 Pfund.

Alles hier wirkt wie ein riesiger knalliger Kindergeburtstag für Biertrinker, ohne Rücksicht auf Verluste und Peinlichkeiten. Mobile Verkäufer sorgen dafür, dass jedes gerade leer getrunkene Bierglas ja sofort nachgefüllt wird. Wer sich dennoch vor der Halle selbst versorgen will, kann sich dort neben den üblichen Fastfood-Gerichten auch eine „Authentic German Sausage“ besorgen. Ein Mittzwanziger, rosa Strumpfhose, Pilotensonnenbrille, mit einer braunen Langhaarperücke auf dem Kopf, torkelt lieber mit einem Zehnerpack Pizzen für sich und Freunde zurück in die Halle. Obendrauf geparkt: zwei Eimer voller Bier. Da ist es gerade zehn vor neun am Abend.

Dart war nicht immer so verrückt, überhaupt nicht. Erst 1992 gründeten 16 Profis den neuen Verband „World Darts Council“, der später in die PDC überging. Ziel war, den Sport auf ein neues Level zu heben, mit geschickter Vermarktung die Preisgelder zu erhöhen und im Fernsehen unterzukommen. Auf der Gegenseite blieb der ursprünglich einzige Weltverband, die World Darts Federation (WDF), übrig, der ebenfalls jährlich eine Weltmeisterschaft organisiert. Aber eben nicht mit den besten Spielern der Welt, sondern mit denjenigen, die nicht zur PDC wechseln konnten oder wollten. Ein Start in beiden Organisationen ist wegen eines jahrelangen Zwists unmöglich, vor allem die WDF grenzt sich seit längerem rigoros von der PDC ab.

„Das muss man sich vorstellen wie im Boxen, da gibt es ja auch den Amateursport und eben das Profiboxen“, sagt Seyler. „Die PDC sagt, sie habe kein Problem, es könne jeder kommen, der will, auch wenn er schon woanders spielt. Die WDF aber sagt: Wir haben damit Probleme.“ Mehrere Versuche Hearns, den Konkurrenten einfach aufzukaufen, scheiterten; das Verhältnis litt darunter noch mehr. Denn wer sich für den Profiverband entscheidet, muss mit einer Sperre beim anderen Weltverband rechnen, das erlebte nicht zuletzt Seyler selbst. Nachdem er zwischen 2006 nur mal probeweise bei einem PDC-Turnier mitgespielt hatte, wurde er von der WDF im dortigen Lager kurzerhand gesperrt. „Die Entscheidung wurde mir einfach abgenommen, obwohl ich mich vorher bei vielen Seiten rückversichert hatte, dass ich keine Probleme bekomme“, kommentiert der 40-Jährige, der als TV-Experte von Sport1 bei der WM ist, als Spieler die Qualifikation aber verpasste.

Selbst der Deutsche Dart-Verband, ebenfalls organisiert unter dem Dach der Traditionsmarke WDF, sieht diese Entwicklung als „sehr negativ“ an. „Es ist leider Gottes so, dass die WDF es den Spielern schwer macht, in beiden Verbänden zu spielen“, sagt Präsidentin Claudia zum Felde. Die Folge: „Uns gehen die guten Spieler verloren.“ Spieler wie Artut oder Seyler, die inzwischen beide nur noch bei PDC-Turnieren spielen und sich als Dart-Vollprofis versuchen. Was natürlich alles andere als einfach ist: Nur die Besten wie Taylor verdienen wirklich große Summen, alle anderen haben zu kämpfen. „Manchmal musste ich erst Turniere gewinnen, um drei Wochen später den nächsten Flug buchen zu können“, sagt der 38 Jahre alte Bremer Artut, der es kommendes Jahr in die Top 32 der Welt schaffen will.

„Nebenbei was anderes arbeiten könnte ich meistens nur mittwochs, für mittwochs stellt mich aber keiner ein“, scherzt Artut. Freizeit ist im Leben der Dart-Profis das ganze Jahr über eher selten - und wenn Artut doch mal welche hat, lässt er sich für Privatveranstaltungen buchen, „das ist bekannt und läuft über meine Facebook-Seite, meist Vier-Stunden-Shows, und jeder darf dann mal gegen mich spielen.“ Eric Bristow, 57, früherer englischer Dart-Star und inzwischen abgetreten, verdient sein Geld mit weniger Einsatz: Er bietet in der Vorhalle den Zuschauern Bilder mit sich an - für 20 Pfund pro Foto. Zahlbar auch mit Visa- und Mastercard. Die Schlange ist lang, in froher Bierlaune der Fans lässt sich die Kommerzialisierung einfacher bewerkstelligen.