Aus über 200 Titeln hat die Jury für den Deutschen Buchpreis die 20 besten ausgewählt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Jedes Jahr wählt eine Jury aus Kritikern, Buchhändlern und sonstigen Exponenten des literarischen Lebens aus der Vielzahl von Neuerscheinungen in einem zweistufigen Reduktionsprozess jene Titel aus, die das Zeug zum besten Roman des Jahres haben sollen. Schon die Zusammensetzung dieser Jury ist ein heikles Balancekunststück divergierender Interessen. Und so gibt die Veröffentlichung der Auswahllisten für den Deutschen Buchpreis regelmäßig auch Anlass zu viel Gemecker. Denn natürlich vermisst jeder immer irgendetwas. Dann beginnt das große Zählen: Ist der Geschlechterproporz gewahrt? Wurden genug migrantische Autoren berücksichtigt? Kommen auch kleine Verlage zum Zug? Stimmt das Verhältnis von literarischem Anspruch und Konsumierbarkeit? Als wäre gute Literatur der korrekte Durchschnitt all jener Kriterien, die eine Gesellschaft zum Ausgleich zu bringen hat – und nicht eher deren Provokation.

 

Das fein abgewogene Mobile, das die Jury für dieses Jahr aus den 20 Titeln der sogenannten Longlist zusammengebastelt hat, kreist schwerelos über allen Einseitigkeiten. Ein Debüt wie Helena Adlers jung-anarchische Dorfgeschichte „Die Infantin trägt den Scheitel links“ (Jung und Jung) wird mit gut abgehangenem Stoff aus Robert Seethalers Bestsellerwerkstatt austariert. Sein Roman „Der letzte Satz“ (Hanser Berlin) über das Leben und Sterben des Komponisten Gustav Mahler verspricht Buchhändlern, was ihnen die Einsamkeits-Studie „Triceratops“ (Kremayr & Scheriau) von Stephan Roiss ohne den Rückenwind der Buchpreis-Selektion wohl eher vorenthielte: eine gutes Geschäft. Und das ist ihnen in diesem von Corona zerschossenen Jahr auch dringender denn je zu wünschen.

Gerade die unerwarteten Funde gilt es im Blick zu halten

Die Virus-Krise hinterlässt ihre Spuren, indem auffallend viele Titel aus dem Frühjahr noch einmal eine zweite Chance erhalten: ein weiteres Kapitel von Frank Witzels autobiografischem Schreibprojekt („Inniger Schiffbruch“, Matthes & Seitz), Leif Randts bereits für den Leipziger Buchpreis nominierter Zeitroman „Allegro Pastell“ (Kiwi), Valerie Fritschs bildstarke Beschwörung der dunklen Geister der Vergangenheit („Herzklappen von Johnson & Johnson“, Suhrkamp) oder Birgit Birnbachers Resozialisierungsabenteuer „Ich an meiner Seite“ (Zsolnay), für das sie bereits in Klagenfurt Bachmann-Weihen empfangen hat.

Süffigen Lesestoff versprechen Charles Lewinskys „Halbbart“ (Diogenes) und Christine Wunnickes „Die Dame mit der bemalten Hand“ (Berenberg) - zwei Romane, die auf eigenwillige Weise das historische Fach bearbeiten. Deniz Ohde („Streulicht“, Suhrkamp) und Dorothee Elmiger („Aus der Zuckerfabrik“, Hanser) erkunden zeitgenössische Arbeitswelten. Und im Licht der Rassismus-Debatte gewinnt Gestalt, was Olivia Wenzel ankündigt: „1000 Serpentinen Angst“ - das sind noch einige mehr als Vater und Sohn in Bov Bjergs depressivem Schleudertrauma „Serpentinen“ (Claasen) auf der schwäbischen Alb zu überwinden haben.

Thomas Hettches Roman über die Augsburger Puppenkiste „Herzfaden“(Kiwi) wird man mit Sicherheit unter den sechs Titeln der am 15. September veröffentlichten Shortlist wiederbegegnen, vermutlich auch Roman Ehrlichs Blick in eine Zukunft, der das Wasser im wörtlichen Sinn bis zum Hals steht („Malé“, S. Fischer).

Umso wichtiger aber, auch jene Spitzen des Buchmassivs aus insgesamt 200 Einreichungen im Blick zu behalten, die nur allzu leicht drohten unterzugehen: Jens Wonnebergers „Mission Pflaumenbaum“ (Müry Salzmann), Anne Webers Heldinnenepos „Annette“ (Matthes & Seitz), die zauberhafte rumänien-deutsche Geschichtspassage von Iris Wolfs „Unschärfe der Welt“ (Klett-Cotta) oder Arno Camenischs Grenzgänge in die Erinnerung zwischen Hochsprache und Dialekt: „Goldene Jahre“ (Engeler).

Viel Stoff zu lesen, bis am Vorabend der Frankfurter Buchmesse, am 12. Oktober, der Sieger verkündet wird. Der Preis ist insgesamt mit 37 500 Euro dotiert.