An diesem Sonntag hat Giuseppe Verdis „Don Carlo“ Premiere an der Staatsoper Stuttgart. Die Regisseurin Lotte de Beer erzählt das Stück als Geschichte vom Untergang eines kranken Systems. Ein Probenbesuch, ein Gespräch.

Stuttgart - Es knirscht und es knistert. Es ist Orchesterhauptprobe im Opernhaus, zum ersten Mal kommen die kostümierten Sänger mit dem Orchester zusammen. In den vorderen Parkettreihen sitzen fleißige Helfer, die notieren, was, vor allem im Dialog zwischen Bühne und Graben, noch nachgebessert werden muss. Wo es also noch knirscht im Getriebe. Für das Knistern sorgt die Spannung im Raum. Mit gutem Grund, denn es geht auf die Premiere zu. Gegeben wird an diesem Sonntag Giuseppe Verdis „Don Carlo“, eine Oper nach Friedrich Schillers Schauspiel, die von der Unvereinbarkeit von Liebe und Macht handelt. Verdi, der sein Stück über zwei Jahrzehnte hinweg immer wieder überarbeitete, schuf sieben unterschiedliche Fassungen – und ließ dem traurigen Helden am Ende ein Türchen zur Rettung offen.

 

Nein, nein, winkt Lotte de Beer im Gespräch ab und fährt sich dabei immer wieder mit den Händen durch ihre langen Locken, ein glückliches Ende wird es in ihrer Inszenierung nicht geben. Schließlich sei das ganze Leben des Titelhelden geprägt vom Vorrang der Politik vor seinem persönlichen Glück. „Der König respektiert ihn nicht, eine Mutter gibt es nicht, sein Freund Posa benutzt ihn nur für seine politischen Ambitionen, von der Geliebten wird er getrennt.“ So ein Mensch könne nicht überleben – noch dazu in einer Inszenierung, die das Geschehen ein paar Jahrzehnte in die Zukunft verlagert, also in eine Zeit, in der Umweltkatastrophen, Flüchtlingsströme und Fundamentalismus noch stärker sind als heute

Der einzig Gesunde

Don Carlo, der Außenseiter, den das System krank macht: Das will die niederländische Regisseurin, „obwohl man es auch andersherum sehen könnte – nämlich, dass Carlo der einzig Gesunde in einem kranken System ist“ –, deutlich zeigen. Deshalb verleiht sie dem Prinzen deutliche Symptome eines Autisten. Auf der Szene sieht man den Tenor Massimo Giordano, der zuckt, sich der geliebten Elisabeth nähert, sich zurückzieht, sich auf den Boden kauert, Berührung gleichzeitig sucht und vermeidet. Außerdem nimmt man gleich anfangs wahr, worauf Lotte de Beer vor allem setzt: scharfe Schnitte, starke Kontraste. Das junge Paar befindet sich in ihrer Inszenierung schon halb entblößt im Brautbett, als die Botschaft von Elisabeths Verehelichung mit dem Vater des Prinzen verkündet wird – flugs ist das Private wieder öffentlich und die leer geräumte Bühne voller Menschen. Später werden dunkle Schergen ein Opfer vor munteren, weiß gekleideten Hofdamen vorüber treiben.

Gesungen wird auf Französisch („weil die Musik für diese Sprache komponiert worden ist“), und gegeben wird eine Stuttgarter Fassung, die auf der letzten autorisierten Version Verdis (für Modena) fußt – plus Fontainebleau-Akt. Ohne die dort erzählte Geschichte der Liebe und der Trennung von Carlo und Elisabeth, so die Regisseurin, könne man die Hauptfigur nicht verstehen. Und nur durch diesen ersten Akt erhalte das Stück politische Brisanz, denn hier höre und sehe man, wie das Volk unter dem Krieg leidet. „Später fällen die mächtigen Männer alle Entscheidungen allein.“

Frauenbilder hinterfragen

In der Stuttgarter Neuinszenierung ist es der Nachwuchs, der sich gegen das System wehrt. Zur Ballettmusik, die hier nicht gestrichen, sondern vom Generalmusikdirektor Cornelius Meister noch mit einem zum Regiekonzept passenden Zusatz versehen wird („eine Überraschung!“), spielen fünf Kinder selbstvergessen mit Puppen – bis das Ganze kippt, bis sie das Autodafé nachspielen, das anschließend die Erwachsenen zelebrieren. Die nachfolgende Generation lehnt sich auf – „aber wie bei vielen Revolutionen folgt einem blutigen Regime ein noch blutigeres.“ Das, so Lotte de Beer, sei „die Erbsünde der Menschen“, die nie so handeln würden wie die Bienen mit ihrem ausgeprägten Gruppeninstinkt, sondern immer zuerst an sich selbst denken. Und im „Don Carlo“ gehe es in jeder Szene um Macht. Sogar bei der Prinzessin Eboli, „aber weil sie eine Frau ist, also unterdrückt wird, kann sie nur überleben, indem sie manipuliert“.

Was das betrifft, ist sich die junge, temperamentvolle Frau, die lange von einer Karriere als Opernsängerin träumte, ganz sicher. Dafür habe man als Regisseurin womöglich auch eine andere Sensibilität als männliche Kollegen. „Es ist mir unmöglich“, sagt Lotte de Beer, „das Frauenbild des 19. Jahrhunderts nicht zu hinterfragen.“ Ob sie sonst noch als Frau in der Oper etwas anders macht als ihre Kollegen? Ach nein – die Zeit der Diktatoren im Opernbetrieb sei doch längst vorbei, und mittlerweile seien auf den Regieschulen fast 60 Prozent Frauen. „Unsere Revolution“, lacht Lotte de Beer, „ist längst vorüber.“

Und die Gattung selbst, die Oper? Braucht die eine Neudefinition? Lotte de Beer schüttelt den Kopf. Nein, nicht grundsätzlich. Nur manchmal, wenn sie mit ihrer eigenen freien Operntruppe Operafront Musiktheater ganz neu zu denken versucht, fragt sie sich, „ob man diese wunderbare Kunst nicht auch zu den Menschen bringen muss, die sie nicht kennen“. Wie damals, als sie „La Traviata“ in einer Neunzig-Minuten-Version bei einem Rockfestival präsentierte – „und das Publikum hat nicht nur gebannt zugehört, sondern am Ende geschluchzt und gejubelt.“ Oper, hat sie da gespürt, „ist eine Kunst für heute. Ganz unbedingt!“