Zehn Jahre her ist die Loveparade-Katastrophe in Duisburg, bei der 21 Menschen ums Leben kamen und Hunderte verletzt wurden. Ein lesenswerter Tatsachenroman zeichnet die unheilvollen Stunden nach.

Nachrichtenzentrale : Lukas Jenkner (loj)

Stuttgart - Es sollte ein riesiges Fest der Musik und der Liebe werden, doch heute steht die Loveparade 2010 in Duisburg für – ja, was eigentlich? Planungschaos? Veranstalterhybris? Die verlorene Unschuld einer Partygeneration? Die Suche nach Schuld und Verantwortung hat sich erledigt, nachdem die juristische Aufbereitung knapp zehn Jahre nach dem Loveparade-Unglück, bei dem im Tunnel zum Festgelände am Nachmittag des 24. Juli 2010 in tödlicher Enge 21 Menschen ums Leben kamen und Hunderte verletzt wurden, im Frühjahr 2020 endgültig zerbröselt ist. Die Verfahren gegen alle Angeklagten wurden vom Landgericht Duisburg wegen geringer Schuld eingestellt. „Diese Katastrophe ist eine Katastrophe ohne Bösewicht“, sagte der Vorsitzende Richter am Schluss des Prozesses.

 

Mit der Schuldfrage beschäftigt sich Jessika Westen nur am Rande. Die Journalistin hatte an jenem Tag als TV-Reporterin von der Loveparade berichten sollen, doch dann geriet ihr Einsatz zur Katastrophenberichterstattung. Westen hat sich danach jahrelang mit den Folgen des Unglücks befasst. Nun ist zum 10. Jahrestag ein Tatsachenroman von ihr erschienen: „Dance or die – Die Loveparade-Katastrophe“. Der Titel wirkt nur auf den ersten Blick makaber, er bezieht sich auf einen Aufkleber, der an jenem Tag rund um die Loveparade in Duisburg verteilt worden war.

Eine phasenweise minutiöse Rekonstruktion

Westens Roman erzählt die unseligen Ereignisse des Tages konsequent aus der Perspektive dreier Beteiligter nach: Da ist die junge Katty, die es nicht erwarten kann, bei der riesigen Party mitzutanzen und hofft, endlich in den Armen ihres Schwarms zu liegen; der Rettungssanitäter René ist an diesem Tag im Einsatz und sieht den Ereignissen mit einer Mischung aus Professionalität und Neugier entgegen; die Journalistin Emma soll fürs Fernsehen über die Loveparade berichten und darf wohl als Alter Ego der Autorin Westen angesehen werden.

Sie alle erleben den Tag auf ihre ganz eigene Weise. Jessika Westen wechselt kapitelweise die Perspektive, gibt den Protagonisten in Rückblenden Tiefe und lässt sie im Laufe des Tages teils schicksalhaft einander begegnen. Jeder nimmt auf eigene Weise die Menetekel der nahenden Katastrophe wahr, ohne dass sich jemand vorstellen kann, dass wirklich etwas passieren könnte.

Der Leser bleibt erschüttert zurück

Doch dann eskaliert die Lage bekanntermaßen im Tunnel zum Festivalgelände mit den tödlichen Folgen. Während Jessika Westen in der Schilderung von Alltagsbanalitäten, Teenagerliebe und biografischen Hintergründen stilistisch nicht immer sattelfest ist, gelingt es ihr in der nahezu minutiösen Rekonstruktion des Unglücks die klaustrophobische Enge und die Hilflosigkeit des Individuums vor der schieren Masse so überzeugend zu beschreiben, dass der Leser das Buch kaum noch aus den Händen legen mag – und am Schluss erschüttert zurückbleibt.

Eine Loveparade soll es wieder geben. Aktuell ist eine für den Sommer 2021 in Berlin geplant – sofern die Coronapandemie es zulässt.

Jessika Westen: Dance or die. Die Loveparade-Katastrophe. Emons Verlag Köln 2020. Broschur, 320 Seiten, 16 Euro.