Brigitte Seiferheld sitzt seit 52 Jahren im Rollstuhl, fast genauso lange widmet sie sich dem Abbau von Barrieren jedweder Art. Die Stadt hat ihre Bürgerin nun höchst möglich geehrt. Am Ziel ist Brigitte Seiferheld deshalb aber nicht – im Gegenteil.

Region: Verena Mayer (ena)

Ludwigsburg - Das Ziel der kleinen Reisegruppe ist Dinkelsbühl. Brigitte Seiferheld ist gerade mal 16, und mit ihren Eltern und einem Freund der Familie darf sie zur Kinderzeche, dem Dinkelsbühler Heimatfest, das an jenem Donnerstag im Juli anno 1965 stattfindet. Doch die Gruppe, die am Nachmittag in Crailsheim aufbricht, erreicht Dinkelsbühl nicht. Der Wagen kommt von der Straße ab – Aquaplaning – und prallt auf zwei Bäume. Mit dem Unfall endet nicht nur Brigittes Plan, einen schönen Festabend zu verbringen. Schädelbruch, Schädelbasisbruch, Bruch des Rückgrats zwischen dem fünften und sechsten Halswirbel – das sind einige der Verletzungen, mit denen die junge Frau ins Krankenhaus kommt. Die Ärzte wissen lange nicht, ob die Patientin überleben wird. Als klar ist, dass sie es schafft, ist auch klar, dass sie für immer gelähmt sein wird.

 

Ein neues Leben

Fast 52 Jahre liegt dieser Unfall nun zurück. Und wenn man sieht und hört, was Brigitte Seiferheld in diesen Jahrzehnten getan und geschafft hat, kann man auf den Gedanken kommen, dass der Rollstuhl seine Besitzerin zur Hürdenläuferin gemacht hat. „Ich habe mich mit meiner Behinderung abfinden und etwas daraus machen können“, sagt die 68-Jährige.

Brigitte Seiferheld hat das Ludwigsburger Frauenforum mitgegründet und ist die Initiatorin des Vereins selbstbestimmt mobil. Sie ist im Vorstand des Sozialverbands VdK in Freiberg, wo sie gewohnt hat, ehe sie nach Ludwigsburg zog, und beim Roten Kreuz betreut sie die Beratungsstelle für barrierefreies Bauen und Wohnen. Am Freitag hat Brigitte Seiferheld die höchste Auszeichnung erhalten, die die Stadt Ludwigsburg zu vergeben hat: die Bürgermedaille. „Sie sind für uns eine unverzichtbare Ratgeberin geworden auf dem Weg zu einer inklusiven Stadt“, sagte der Oberbürgermeister Werner Spec im Ordenssaal des Residenzschlosses, wo die Ehrung im Rahmen der Stadtgründungsfeier zelebriert wurde.

Einsatz für Innovationen

Die Flotte der Ludwigsburger Verkehrslinien (LVL) – das weiß jeder – besteht aus Niederflurbussen. Und wie jeder weiß, der schlecht zu Fuß ist oder einen Kinderwagen im Schlepptau hat, verfügen diese Busse über eine Rampe, die bei Bedarf aus dem Fahrzeugboden schwebt und ebenerdiges Einsteigen ermöglicht. Was kaum jemand weiß: es war Brigitte Seiferheld, die die LVL in den 80er Jahren drängte, diese Niederflurbusse anzuschaffen. Und die dafür sorgte, dass die Bürgerstiftung die Kosten für die ersten Einstiegshilfen übernahm.

Dass Ludwigsburg eine übersichtliche Stadt ist, erkennt jeder, der auf den Stadtplan schaut. Dass Ludwigsburg über Gehwege mit lästigen Längs- und Querneigungen verfügt, und mancherorts über erschreckend hohe Bordsteine, nimmt nur wahr, für den Längs- und Querneigungen und hohe Bordsteine ein Problem sind. Brigitte Seiferheld hat deshalb in den 90er Jahren den ersten Innenstadtplan für Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte heraus gebracht. Darauf sind die problematischen Stellen eingezeichnet und die unproblematischen. Wo die Niederflurbusse halten, ist vermerkt, und wo es öffentliche behindertengerechte Toiletten gibt – deren Vermehrung, man ahnt es, natürlich auch Brigitte Seiferheld mit zu verdanken ist.

Ein Arzt muss dazu lernen

Brigitte Seiferheld drängt Hoteliers, Zimmer einzurichten, in denen Rollstuhlfahrer problemlos duschen können. Sie regt den Kauf behindertengerechter Schaukeln für Spielplätze an. Sie wird nicht müde auf die für Rollstuhlfahrer unüberwindbare Kluft zwischen Bahnsteig und Zug hinzuweisen. Und notfalls erstattet sie auch mal eine Anzeige gegen unbekannt wegen unterlassener Hilfeleistung. So geschehen im April 2012. Damals kam Brigitte Seiferheld nicht vom Ludwigsburger Bahnsteig weg, weil der Lift defekt war und spät am Abend niemand zu finden war, der ihr helfen konnte. Gut möglich, dass die Frau, die eine Ausbildung zur Verwaltungsangestellte absolviert hat, die Fachhochschulreife nachholte und ihr Diplom als Betriebswirtin machte, entscheidende Menschen schwer nerven kann. Egal, von nichts kommt nichts.

Als Brigitte Seiferheld den Führerschein machen wollte, musste sie den Tüv erst einmal davon überzeugen, dass Auto fahren für körperlich Behinderte kein Ding der Unmöglichkeit ist. Als sie schwanger war, war der Gynäkologe dermaßen fasziniert, dass eine querschnittsgelähmte Frau Leben schenken kann, dass das junge Ehepaar die Praxis wechselte. Als die Eheleute nach dem Kauf ihrer Wohnung feststellten, dass diese nicht so barrierefrei ist, wie erwartet, riskierten sie viel Geld, um aus dem Vertrag zu kommen.

Die letzte Hürde

Es gibt also einen Grund, wenn Frieder Seiferheld von „wir“ spricht, wo man ein „meine Frau“ erwartet, wenn er zum Beispiel sagt: „Wir müssen jede Woche zeigen, dass wir zum Straßenbild gehören.“ Als ob auch ein augenscheinlich gesunder Mann ein ungewohnter Anblick wäre. Und womöglich gibt es auch einen Grund dafür, dass man nicht sicher sagen kann, ob Frieder Seiferheld wirklich lacht, wenn er sich daran erinnert, dass seine Frau nach dem Unfall neun Tage lang nicht behandelt wurde – weil die Ärzte warteten, ob sie nicht stirbt. Oder ob er nicht eher kurz davor ist, zu weinen. Fast 47 Jahre sind Seiferhelds nun verheiratet – beide sagen, dass dieses lange Zusammenhalten ihr größter Erfolg sei.

Vor fünf Jahren ist Ludwigsburg als „Barrierefreie Gemeinde“ ausgezeichnet worden. Trotzdem sind viele Arztpraxen nicht barrierefrei erreichbar, im Forum am Schlosspark hat Brigitte Seiferheld Nachhilfebedarf ausgemacht und auch in vielen Kinos. „Es gibt noch viel zu tun, packen wir es an“, sagte sie beim Empfang der Bürgermedaille. Sie selbst wird das aber nicht mehr packen können. Ihre Kraft lässt nach. Und von den drei Lungenentzündungen der vergangenen Monate hat sich Brigitte Seiferheld nicht wieder ganz erholt. Ein Nachfolger für ihren Verein ist dringend gesucht, gefunden hat die Vorsitzende noch keinen. Vielleicht wird das die größte Hürde, die Brigitte Seiferheld noch nehmen muss.