Nominiert für den Leipziger Buchpreis: in Lukas Bärfuss‘ Roman „Hagard“ wird ein Geschäftsmann zum Stalker. Sein manischer Irrlauf führt mitten hinein in die Wildnis unserer Gegenwart.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Jemand wird von jetzt auf nachher aus seiner Umlaufbahn geschleudert und zirkuliert fortan in eigenen Sphären. Krankheit, Tod und Katastrophen verfügen über die existenzielle Energie, dergleichen zu bewirken. In Lukas Bärfuss’ neuem, für den Leipziger Buchpreis nominiertem Roman „Hagard“ genügt der richtungsverändernde Schub einer Drehtür und der Blick auf ein Paar pflaumenblaue Ballerinas, um dem Leben eines aufstrebenden Immobilienhändlers eine Wendung zu geben.

 

Gerade hat er sich noch in den Strahlen der Märzsonne auf einen wichtigen Geschäftstermin vorbereitet, nun folgt er einem anderen Zentralgestirn, das unversehens vor ihm aufgegangen ist, einer unbekannten jungen Frau, glänzend, in einen sanften Schimmer von Puder, Milch und Öl getaucht. Diese Erscheinung, die wie eine Materialisation einschlägiger Theoreme der Verausgabung, der Plötzlichkeit, des Begehrens in die geschäftigen Nichtigkeiten eines Nachmittags hineinleuchtet, zieht den merkwürdigen Helden fortan in ihren Bann.

Er heftet sich an ihre Ballerinas und wird nicht mehr weichen, bis ans bittere Ende. Acte gratuit nennt man in der französischen Schule eine Handlung wie diese, sinnlos und absolut zugleich. Weil Bärfuss als genau beobachtender Erzähler mindestens so beschlagen ist wie als Arrangeur kniffliger Denkabenteuer, zwingt er den Leser, ihm zu folgen, durch die Straßen einer Stadt wie Zürich, immer hart am Rand der Wahrscheinlichkeit, und doch überzeugend genug, um jeden Rückweg zu versperren.

Ende und Anfang berühren sich

Der Schweizer Dramatiker, Autor und brillante Essayist findet seine Stoffe vor den eigenen Füßen, doch er führt sie zurück auf ein feines Geflecht von Ursachen, Abhängigkeiten und Widersprüchen. So hat er in dem Roman „Hundert Tage“ auf der Spur eines Schweizer Entwicklungshelfers die Verstrickungen der europäischen Politik in den Völkermord von Ruanda nachvollzogen, und in „Koala“ den Selbstmord des eigenen Bruders ins Unterholz der Zivilisationsgeschichte verfolgt.

Auch in „Hagard“ verschränken sich Natur und Kultur. Der Titel stammt aus der Jägersprache und bezeichnet einen zur Jagd abgerichteten Falken, welches Tier bei Novellenkundlern, seit Boccaccio einen verliebten Ritter mit Falken auf Brautschau schickte, ein Glöckchen klingen lässt. Man könnte den Roman, der sich auf eine Spanne von 36 Stunden konzentriert, durchaus Novelle nennen, auch wenn als Wappentier ein todessymbolischer Rabenvogel fungiert, eine Elster, von Glänzendem so betört wie der Stadtschwärmer von der lichten Silhouette der jungen Frau. Zwischen Gejagtem und Getriebenem findet ein fliegender Wechsel statt: Denn auch wenn der Stalker das Objekt seiner Begierde mit einer hoch konzentrierten Geistesgegenwart verfolgt, ist es doch er selbst, der zusehends zum Tier wird und aus dem Reich der Zivilisation in das der Natur überwechselt.

Betreibt die Kultur die Abschaffung des Menschen mittels seines klugen Telefons, das in immer neue Lebensbereiche dringt, um sie zu beherrschen und zu übernehmen, so endet die kreatürliche Drift des Verwildernden unter dem schwarzen Himmel des Universums. Ende und Anfang berühren sich, wie im Namen des Protagonisten: Philip, ein Beinahe-Palindrom, vorwärts und rückwärts zu lesen. Es ist der kürzeste Ausdruck dessen, was der Roman entfaltet und das Parmenides-Motto verheißt: „Es ist für mich das Gleiche, von wo ich anfange; denn dahin kehre ich wieder.“

Dazwischen aber passiert einiges. Mindestens so interessant wie der individuelle Irrweg ist die Irritation der Ordnungen, die sein obsessiver Lauf quert: Auch in der Stadt, in der äußerlich alles beim Alten geblieben zu sein scheint, bebt das Ungewisse. Attentate, Seuchen, Katastrophen drängen heran. Die Ukraine reißt auseinander, und parallel zum rätselhaften Ausscheren Philips aus seiner beruflichen und sozialen Kohorte verschwindet eine Maschine der Malaysia Airlines vom Radar. „Man war, so las man in Zeitungskommentaren, in eine Schwellenzeit getreten, deren Ende, wann immer es uns treffen mochte, nur eines bedeuten konnte: den Untergang der Welt, wie wir sie kannten.“

Störung alltäglicher Routinen

Im Vorbeigehen entsteht ein Panorama dieses prekären Moments: Lebensformen, erotische Fantasien, soziale Verwerfungen, politische Entwicklungen, die ganzen Ermüdungserscheinungen der Zeit spiegeln sich in Fassaden, hinter denen kein Herz, sondern das universale Antriebsmodul des Smartphone-Netzteils pocht.

Philip dagegen wird getrieben von einer archaischen Kraft, die dem moderat gezügelten Zeitgeist das alles verzehrende Feuer der Liebe, dem erlöschenden Akku seines Handys die mystische Lichtenergie seiner neuen Sonne entgegensetzt. Abgeschnitten vom modernen Gott der Elektrizität „betrat er die alte Welt, die alte Erzählung mit den alten Figuren, jenen Geistern, die längst hätten tot sein müssen, aber noch nicht sterben konnten“.

„Hagard“ hebt das in sich gefügte System unserer Gegenwart aus den Angeln. Die Störung, die der Irrläufer in den alltäglichen Routinen verursacht, ist wie die anfangs leichte Trübung in der Formel eines japanischen Mathematikers ein kleiner, scheinbar nebensächlicher Defekt, der sich auswächst und die Lösung des Ganzen beschädigt – in einer der Nebenhandlungen wird die unglückliche Geschichte jenes arithmetischen Genies erzählt.

So rührt dieses beunruhigende kleine Werk, mit dem der Autor schwer zu ringen hatte – der ursprüngliche Erscheinungstermin wurde um ein Jahr verschoben –, mit einer Kühnheit am großen Ganzen, wie sie sich nur Schweizer Präzisionshandwerker leisten können: ein Eingriff, dessen Konsequenzen für den Leser sich kaum absehen lassen.