An diesem Samstag wird der Schweizer Autor Lukas Bärfuss in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Der Erzählband „Malinois“ gewährt Einblick in seine Werkstatt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Mit dem Stück „Die sexuellen Neurosen“ unserer Eltern wurde Lukas Bärfuss bekannt. Es handelt von der Unfähigkeit, mit unseren aufgeklärten Überzeugungen in der Wirklichkeit immer Schritt halten zu können. Eine Mutter beschließt, dass die Medikamente ihrer geistig behinderten Tochter abgesetzt werden. Das sich anschließende sexuelle Erwachen des zur jungen Frau gereiften Kindes führt die Eltern an die Grenzen der heilen Liberalität, in der sie sich eingerichtet haben.

 

Ganz ähnlich geht es dem Leser bei der Lektüre der Erzählungen, die der Schweizer Autor nun vorgelegt hat, rechtzeitig zu seiner Auszeichnung mit dem Büchner-Preis an diesem Samstag. Schnell kann man sich im vorweggenommenen Festreden-Modus auf die Notwendigkeit der Prozeduren einigen, mit denen Bärfuss uns aus dem sedierten Dämmer über den Brandherden der Gewöhnlichkeit reißt. Und doch schreckt man konsterniert vor der Ungebärdigkeit der erzählerischen Folgen zurück, die der Band „Malinois“ versammelt.

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Nicht wenig trägt zu diesem Schrecken bei, dass man sich sofort in bizarre Extravaganzen verstrickt, versucht man anzugeben, wovon diese Prosastücke im Einzelnen handeln. Ein Mann erwirbt einen alten Alfa Romeo Giulia, mit dem er zärtlicher umgeht als mit der eigenen Frau. Er vergräbt ihn zur Hälfte in seinem Garten, was seinen Nachbarn dazu motiviert, sich allnächtlich dreimal rings um das merkwürdige Arrangement seiner Notdurft zu entledigen. Kann ein entliehener Schraubenschlüssel die Zumutung dieses fäkalen Rätsels lösen?

In Wunden blühen Blumen

In der Titelgeschichte baut ein Antiquitätenhändler einen alten Schrank ab, in dessen Schublade sich eine Pistole befindet. Als er die Fracht in seinem Fiat Ducato durch eine Novembernacht steuert, fährt er einen Hund der Rasse Malinois an, was wiederum die Frau des Ortsvorstehers dazu bringt, angesichts des verendenden Tieres eine spontane Feier der Lebendigkeit zu veranstalten. Plötzlich steht auch noch ihr hintergangener Mann im Raum, und die Kugel jener Pistole hat die Wahl, welcher Empfindung sie ein Ende bereiten soll: „dem Zorn, der Verwirrung, dem Schmerz oder dem Begehren.“

So könnte man eine Geschichte nach der anderen kaputtpointieren. „Was ist Liebe?“ handelt von einem Mann, der sich nach dreißig Jahren in seinen Schwager verliebt, weil dieser so hübsch die Krokusse streichelt. In ein „Engel in Erding“ träumt jemand, der sich vor der Begegnung mit seiner Vergangenheit drückt, von einer nackten Gestalt, in deren Körper ekelhafte Wunden klaffen: „In jeder dieser Wunden blühte eine Blume, und dass diese Blumen nach Aas stanken, war nicht das Grauenhafteste, das Grauenhafteste waren ihre Blätter, wie die Zunge eines Mannes, wenn er eine Frau ausleckt.“ So klingen die sexuellen Neurosen unserer Dichter.

Doch wer bis hierher gelesen hat, ohne auszusteigen, der dürfte empfänglich sein für die andere Seite dieser Sammlung von Prosastücken, die einen Zeitraum von zwanzig Jahren umspannt, just jene Phase, während der Lukas Bärfuss zum Chronisten der existenziellen Grundsituationen des modernen Lebens heranreifte. Denn auch wenn sich diese Erzählungen gefällig gebauten Handlungsbögen verweigern, so gewähren sie umso freizügiger Einblick in die Werkstatt, aus der ein zurecht mit der wichtigsten Auszeichnung für deutschsprachige Literatur gewürdigtes Ouevre hervorging.

Befremdliche Figurenskizzen

Die Erzählung „Eine feine Nase“ zelebriert die Kunst der Verknappung, ein ganzer Gesellschaftsroman um die Frage der Zugehörigkeit schmilzt darin auf drei signifikante Szenen zusammen. Eine andere Geschichte skizziert die Amour fou zwischen einem Vertreter für Geräteentkalker und einer verheirateten Frau als Zusammenspiel naturwissenschaftlicher Ordnungen mit unserem Triebleben. Und in „Der Keller“ findet der Protagonist nach einem Überfall nicht mehr zurück in die fragwürdige Routine seines Lebens, das ihm plötzlich nur noch „wie hingemalt“ erscheint.

Die Malerei kennt den fruchtbaren Augenblick, aus dem das Vorhergehende wie Kommende begreiflich wird. Dieser erzählerischen Ökonomie folgen die Szenen dieses Bandes. Was sie zeigen, ist genau so viel, wie es braucht, um die Vorstellungskraft auf die Spur zu setzen. Dort spielt die eigentliche Geschichte. Sucht man eine Antwort auf die Frage, wie es Bärfuss gelingt, seine zumeist an aktuelle Themen und Stoffe andockenden Stücke und Romane über die intellektuellen Gefälligkeiten des Zeitgeists hinauszuheben, man findet sie genau in diesem imaginativen Überschuss.

Die befremdlichen Figurenskizzen in „Malinois“ sind damit engste Verwandte der ausgeführten Romangestalten: jenes Mannes etwa, der in „Hagard“ aus der Bahn geworfen wird, weil er eines schönen Frühlingsmittags seine Schritte von einem zum anderen Moment an die Ballerinas einer unbekannten Frau heftet und davon nicht mehr lassen kann.

So demonstrieren die genau gearbeiteten Gesellenstücke dieser Sammlung das Handwerk, die Techniken und Kühnheiten, die hinter der nun mit dem Büchner-Preis zertifizierten Meisterschaft dieses Autors stehen. Es lohnt sich, ihnen standzuhalten.

Info:

Autor Lukas Bärfuss, geboren am 30. Dezember 1971 in Thun/Schweiz, ist Dramatiker, Erzähler und Essayist. Er lebt in Zürich.

Werk Bärfuss ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterautoren. Zu seinen bekanntesten Stücken zählen: „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ (2003), „Der Bus“ (2005); sein Helmut-Kohl-Drama „Der Elefantengeist“ wurde im 2018 in Mannheim uraufgeführt. Bärfuss schrieb drei Romane. „Hundert Tage“ handelt von den Verstrickungen der europäischen Politik in den Völkermord von Ruanda; in „Koala“ setzt er sich mit dem Selbstmord des eigenen Bruders auseinander. Zuletzt erschien der Stalker-Roman „Hagard“.

Preis Der Büchner-Preis gilt als renommierteste Literaturauszeichnung im deutschsprachigen Raum. Er ist mit 50 000 Euro dotiert. Die Preisverleihung findet am Samstag, 2. November, um 16 Uhr im Staatstheater Darmstadt statt, die Laudatio hält Judith Gerstenberg.

Buch Lukas Bärfuss: Malinois. Erzählungen. Wallstein Verlag. 128 Seiten, 18 Euro.