Der Fußballexperte Marcel Reif (69) vermisst beim VfB so ziemlich alles, was einen erfolgreichen Fußballclub ausmacht: Einen klaren Plan in der Führung, eine weitsichtige Transferpolitik, einen Trainer, der auch mal langfristig arbeiten kann.

Stuttgart - Dass der VfB am Sonntag (15.30 Uhr) als erneuter Abstiegskandidat beim Spiel in München antritt, liegt nicht an Pech und Zufall, findet Marcel Reif. Der langjährige TV-Kommentator stellt der Vereinsführung vor dem Duell beim Rekordmeister ein denkbar schlechtes Zeugnis aus.

 

Herr Reif, das Duell zwischen den Bayern und dem VfB galt einst als Südgipfel, als Topspiel der Bundesliga. Erinnern Sie sich?

Ich erinnere mich dunkel. Aber wenn ich höre, was nun Timo Baumgartl über dieses Spiel gesagt hat, dann können wir das Gespräch an dieser Stelle wieder beenden.

Er meinte, das sei für den VfB ein Bonusspiel, hat seine Aussage aber danach relativiert.

Ein Bonusspiel! Das heißt: Dieses Spiel können wir uns schenken! Gut, dass ich das rechtzeitig weiß – nicht dass ich auf die Idee komme, es mir auch noch anzuschauen. Im Ernst: So etwas möchte ich von einem Spieler nicht hören. Selbstverständlich hat er recht, die Beschreibung der Kräfteverhältnisse ist zutreffend. Auch wir beide wissen, dass es eine Sensation wäre, wenn der VfB bei den Bayern einen Punkt holen würde. Aber solche Sensationen gibt es im Sport, er lebt sogar davon. Oder hätten Sie geglaubt, dass Düsseldorf aus München einen Punkt mitnimmt?

Trauen Sie dem VfB auch einen zu?

Furchtbar spannend wird es vermutlich nicht werden. Aber der VfB ist ja nicht irgendein Club, der sich in die erste Liga verirrt hat. Er hat da unten eigentlich nichts zu suchen. Deshalb schaue ich mir das Spiel natürlich an – und hoffe, dass ich nicht draufgucke wie auf einen Verkehrsunfall, bei dem man weiß, dass es nicht sehr schön ist, was man da zu sehen bekommt.

Nach dem VfB-Abstieg haben Sie bei uns im Interview den schönen Satz gesagt: „Das Tolle an einer freien Gesellschaft ist, dass man alles falsch machen kann, was man nur will.“ Muss sich der VfB noch immer angesprochen fühlen?

Wissen Sie mehr? Hat beim VfB seit dem Wiederaufstieg irgendeine Naturgewalt gewütet und schlimmen Schaden angerichtet?

Nein.

Sehen Sie? Dann trifft der Satz auch weiterhin zu. Andere Regionen nennt man strukturschwach – das Stuttgarter Tal nenne ich ausgesprochen strukturstark. Der VfB hat ein tolles Stadion und ein Publikum, das auf den Knien nach Cannstatt kommt, wenn dort der Ball rollt. Davon können andere Clubs nur träumen. Deshalb ist hier die Chance zum Scheitern, die eine freie Gesellschaft bietet, erneut genutzt worden.

VfB-Präsident Wolfgang Dietrich betont aber immer wieder, dass in den vergangenen zwei Jahren „hervorragende Rahmenbedingungen“ geschaffen worden seien.

Die Erfolge scheinen mir überschaubar zu sein im Vergleich zu dem, was schiefgegangen ist. Die Transfers, die Trainerwechsel – das sind nach meinem Kenntnisstand im Fußball die wichtigsten Entscheidungen.

Sie fallen in den Bereich von Sportchef Michael Reschke, der zudem ein Glaubwürdigkeitsproblem hat. Wie sehen Sie sein Wirken?

Es ist nicht mein Stil, über einen Menschen zu richten. Aber er hat einen öffentlich durchschaubaren Job. Er holt Spieler und Trainer – wenn das nicht funktioniert, hat er etwas falsch gemacht. Wenn man ehrlich ist, haben sogar zu viele Dinge nicht funktioniert. Das Beste daran ist, dass er dies zugibt, wie ich bei Ihnen gelesen habe.

Was ist das Hauptproblem beim VfB?

Es gab in Reschkes Amtszeit in relativ kurzer Zeit drei Trainer. Eine solche Fluktuation auf dem Trainerposten ist das Schlimmste, was einem Verein passieren kann. Denn jeder Trainer bringt eigene Vorstellungen mit. Meine Idealvorstellung war immer: Ein Club hat eine Idee, er steht für irgendetwas – daran sollten sich sehr viele Entscheidungen orientierten. Was bitteschön ist jetzt die DNA des VfB?

Es heißt gern, man wolle wieder auf den eigenen Nachwuchs setzen.

Das habe ich auch mal gehört, dass wieder junge Wilde kommen sollen. Der VfB hatte in diesem Bereich früher einen Ruf wie Donnerhall. Wenn ich jetzt aber die Mannschaft durchgehe, dann müssten Sie mir helfen, wo da aus der eigenen Super-Jugend abgeschöpft wurde. Nichts gegen Alexander Esswein und Steven Zuber, die in der Not geholt wurden. Aber das erinnert mich jetzt wieder an ein Boot, das viele Löcher hat, die schnellstmöglich irgendwie gestopft werden müssen, sonst läuft der Kahn voll. Dass solch ein Vorgehen keine weitsichtige Kaderplanung ist und kein Leben einer DNA – das könnte Ihnen auch ein Schüler erklären.

Die Bayern haben in dieser Saison auch schon einige Turbulenzen erlebt.

Als die Dinge im Herbst aus dem Ruder liefen, hatten sie einen zu jungen Sportdirektor, einen zu jungen Trainer und eine zu alte Mannschaft. Und die Clubführung gab eine Pressekonferenz, die ich lieber nie gehört hätte. Irgendwann haben sich aber alle zusammengerauft und die richtigen Schlüsse gezogen. Vor allem Niko Kovac hat sich bewegt, sogar enorm bewegt – taktisch, aber offenbar auch in seiner Art der Mannschaftsführung.

Alte Spieler hat Kovac noch immer in seinen Reihen.

Ja, der Umbruch ist nicht so gemanagt worden, wie man es wohl hätte machen müssen. Ja, die Vereinsführung hat versucht, die Zeit anzuhalten. Aber man muss auch mal fair sein: Wenn Sie eine so erfolgreiche Mannschaft haben, dann ist es unheimlich schwierig, alten und verdienten Spielern zu sagen: Eure Zeit ist vorbei. Das hat auch viel mit Dankbarkeit zu tun, und das will ich den Bayern gar nicht vorwerfen. Jetzt sind sie an einem Punkt, an dem sie gezwungenermaßen den Umbruch machen müssen und zwar schlagartig.

Bisher scheint es zu funktionieren . . .

. . . die Saison geht aber jetzt erst richtig los. Die Gruppenphase der Champions League ist zu einer einzigen Witznummer verkommen. Ich will nicht unken – aber dass die Bayern gegen Liverpool im Champions-League-Achtelfinale ausscheiden, ist zumindest nicht völlig abwegig. Und wenn das passiert, werde ich München erst einmal weiträumig umfahren.

Die Bundesliga freut sich über die Münchner Schwächen, denn sie ist endlich wieder spannend. Kann Borussia Dortmund bis zum Ende durchhalten?

Mir gehen die Argumente aus, warum dies nicht der Fall sein sollte. Denn ich sehe, dass sie immer stabiler werden und alles richtig machen. Die jungen Spieler werden reifer, erwachsen, sie haben ihre Fehler gemacht. Trainer Lucien Favre ist zudem ein notorischer Bessermacher. Und nicht zuletzt: die Dortmunder haben derzeit unfassbares Glück und gewinnen wie zuletzt in Leipzig Spiele, die sie gar nicht gewinnen können. Da hat sich der Fußball-Gott mal ein bisschen Zeit genommen. Daher müssen die Bayern erst einmal schauen, dass sie ihre sechs Punkte Rückstand verteidigen.

Kann Dortmund den Bayern auch dauerhaft Konkurrenz machen und nicht nur mit Glück und während einer Münchner Schwächephase?

Warum nicht? Das Geld, das die Borussia durch die Verkäufe von Dembélé, Aubameyang und anderen aufgehäuft hat, hat sie in die Lage versetzt, noch stabiler zu werden. Auch Dortmund kann inzwischen Ausfälle verkraften. Hinzu kommt das Publikum, der bereits erwähnte Trainer - und ganz offensichtlich großartiges Scouting. Ich habe seit Jahren keinen Club gesehen, der bei seinen Transfers ein solches Händchen hat. Dortmund hat Spieler geholt, deren Namen ich teilweise noch nie gehört hatte – und die jetzt groß aufspielen. Wenn das auch weiterhin funktioniert, sehe ich durchaus die Chance, dass der BVB zu den Bayern aufschließen kann.

Wäre ja schön für die Liga.

Hinzu kommt der Brexit, wenn er denn eintritt. Dann hast du einen ganz anderen Markt. Dann können Spieler, die noch keine 100 Länderspiele haben, nicht nach England gehen, weil sie keine Arbeitserlaubnis bekommen. Dann wird der deutsche Markt auch für die Stars plötzlich interessant. Und alle Messis können auch die Bayern nicht kaufen.