Der Tänzer Marijn Rademaker verabschiedet sich nach 15 Jahren vom Stuttgarter Ballett und geht nach Amsterdam. Der 33-Jährige Niederländer will dort seine Karriere vollenden.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)
Stuttgart - Mit achtzehn kam er direkt nach seiner Ausbildung im Sommer 2000 zum Stuttgarter Ballett – nun verlässt Marijn Rademaker als brillanter, ungewöhnlich ausdrucksstarker Tänzer und Publikumsliebling die Kompanie von Reid Anderson. Vom 1. Januar an wird der 33-Jährige das Niederländische Nationalballett im Amsterdam verstärken. Bevor er am 31. Dezember bei der Silvestergala seinen letzten Auftritt als Erster Solist hat, blickt er auf seine Zeit in Stuttgart zurück.
Herr Rademaker, worauf freuen Sie sich am meisten in Amsterdam?
Auf die Stadt. In Amsterdam kann man sich frei und ungezwungen bewegen, man sieht viele außergewöhnliche Menschen auf der Straße, doch keiner dreht sich nach ihnen um – das gefällt mir. Und natürlich freue ich mich auch auf die Zusammenarbeit mit meinen neuen Kollegen und mit dem großen Choreografen Hans van Manen.
Was werden Sie an Stuttgart am meisten vermissen?
Viel! Das Ländle! Die Spätzle! (lacht) Natürlich wird mir vor allem das Stuttgarter Ballett sehr fehlen – und das, wofür es steht: für den natürlichen, den echten Ausdruck im Tanz. Und meine Kollegen, die Ballettmeister, Reid – sie alle werden mir fehlen. Man sagt, Trauer ist auch immer ein Grund zur Freude. Denn man wäre ja nicht traurig, wenn es keine schöne Zeit gewesen wäre.
Warum verlassen Sie die Kompanie?
Reid Anderson hatte mir angeboten, so lange zu bleiben, wie ich möchte, dafür bin ich ihm sehr dankbar. Aber Reids Vertrag läuft bis 2018. 2018 werde ich 36 Jahre alt sein. Das wäre für einen Wechsel sehr spät. Und ich möchte nicht mit einem neuen Direktor arbeiten, den ich womöglich nicht mag oder der mich vielleicht nicht mag. Da ich jemand bin, der gern in festen Strukturen arbeitet, war ich gezwungen, über meine Zukunft nachzudenken, und ich habe mir gesagt: jetzt oder nie. Ich will tanzen, bis ich vierzig bin. In Holland habe ich die Sicherheit, dass das geht.
Sie sind in Holland geboren und aufgewachsen, sind hier in Stuttgart zum Star geworden, jetzt geht es wieder zurück. Lockt Sie die weite Welt gar nicht?
Ich tanze viel in der ganzen Welt. Aber ich würde nicht gern in Amerika oder in Asien leben. Ich habe mich schon umgeschaut, in Zürich oder London. Ich mag London zwar als Stadt, aber um dort zu leben, ist es mir zu groß. Holland ist meine Heimat, das Nationalballett ist eine der besten Kompanien der Welt, das Repertoire ist toll. Warum soll ich so weit wegziehen?
Wie sind Sie zum Tanz gekommen?
Als Kind habe ich im Wohnzimmer immer getanzt. Meine Mutter hat mich dann überredet, ins Ballett zu gehen. Ich habe aber auch sehr gern Fußball gespielt! Wenn ich mit dem Tanzen aufhören würde, würde ich sofort wieder Fußball spielen!
Fußball und Tanz – das sind ja sehr unterschiedliche Welten!
Ja, aber beides ist Bewegung, Dynamik. Mein Fußballtrainer hat damals gesagt: Du siehst aus wie ein Tänzer auf dem Feld!
Sie haben in Stuttgart viele Erfolge gefeiert, vor allem als Armand in der „Kameliendame“, als Petrucchio in „Der Widerspenstigen Zähmung“ von Cranko, als feuriger Basilio in „Don Quijote“ oder mit dem für Sie kreierten Stück „Äffi“ von Marco Goecke.
Ja, es war eine sehr fruchtbare Zeit, in der ich alles über den Beruf des Tänzers gelernt habe. Das sehe ich als unglaublich gute Basis für meine Zukunft.
Basis? Jetzt untertreiben Sie aber!
Das hört sich undankbar an, ist aber nicht so gemeint. Meine Karriere hier ist eine wirklich gute Basis für das, was noch kommt – was das sein wird, ist noch offen. Ich habe alles getanzt, die unterschiedlichsten Rollen, Charakter und Genres, von klassisch bis modern. Ich habe hier gelernt, was Tanzen eigentlich ist und wie man es anderen beibringt. Ich hatte in Stuttgart die Zeit meines Lebens.
Sie sagen, Sie haben gelernt, was Tanz ist. Das müssen Sie jetzt erklären!
Ich glaube, dass Tanz von innen kommt. Natürlich muss die Technik sitzen, aber das ist längst nicht alles. Es geht um Charakter, um Rollengestaltung, Dynamik, um Musikalität. Für diese Dinge hat man ein gewisses Talent, aber das reicht eben nicht. Nein, man muss all dies zu einem Ganzen zusammenfügen, so dass es ineinander passt. Und das ist dann Tanz.
Sie sind also hier in Stuttgart zu einem Ganzen gereift – dank der Kompanie?
Ja. Das Spezielle am Stuttgarter Ballett ist, dass wir hier als Künstler und als Menschen behandelt werden. Nehmen wir zum Beispiel unsere Choreologin und Ballettmeisterin Georgette Tsinguirides. Sie ist einfach unglaublich. Sie weiß, wie man einen Künstler weiterbringt, sie hat ein ausgeprägtes psychologisches Gespür. Jeder hat doch mal ein Problem oder ist nicht gut drauf. Sie weiß dann ganz genau, wie sie das steuern kann. Dieses Reifen, dieses Runden– das geht über Jahre. Deshalb ist Zeit auch ganz wichtig in unserem Beruf.
Welche Stücke und Rollen haben Sie besonders ins Herz geschlossen?
Natürlich die „Kameliendame“, das war meine erste große Hauptrolle . . .
Für die hat Reid Anderson Sie gleich nach der Premiere vom Halbsolisten direkt zum Ersten Solisten befördert.
Ja, das wird immer ein besonderes Ballett für mich bleiben, auch weil da meine Verbindung mit Sue Jin Kang begann. Dann auch „Äffi“ oder der Jago in Neumeiers „Othello“, weil das vom Typ her überhaupt nicht zu mir passt. Aber ich habe es geliebt, diese Rolle auszugestalten, daran zu feilen. Noch so eine Figur war Petrucchio. Vor ihm hatte ich richtig Respekt, mehr noch als vor Onegin. Das ist ein Draufgänger, ein Macho, das bin ich nicht wirklich. Aber Georgette hat mir sehr geholfen und gesagt: Du musst dir deinen eigenen Petrucchio machen!
Sie sagen, Sie möchten tanzen, bis Sie vierzig sind. Und dann?
Als ich mal verletzt war, habe ich mehrmals unterrichtet. Das habe ich geliebt. Ich könnte mir gut vorstellen, später Ballettmeister zu werden.
Ihre Ballettmeisterin Georgette Tsinguirides sagt, Tänzer seien besondere Menschen. Finden Sie das auch?
Ja. Tänzer brauchen eine außerordentliche Disziplin und Intelligenz. Und ihre Emotionen liegen näher an der Oberfläche als bei normalen Leuten, weil sie sich tagtäglich mit ihnen beschäftigen.
Wie würden Sie das Stuttgarter Publikum beschreiben?
Es ist eines der besten der Welt. Das Publikum hier hat soviel Liebe für das Ballett! Das Haus ist immer voll, der Applaus unglaublich warmherzig. Das findet man nicht so oft. In Japan ist es ähnlich, dort stehen die Leute nach den Vorstellungen Schlange für Autogramme.
Sie gastieren oft an anderen großen, renommierten Häusern. Wie sind dort die Arbeitsbedingungen im Vergleich zu Stuttgart?
Unser großer Ballettsaal ist im Vergleich zu dem, was andere renommierte Kompanien haben, sehr, sehr klein. Wir sind Weltklasse hier, aber die Bedingungen sind wirklich schwierig. Auch die John-Cranko-Schule ist sehr veraltet. Dass der Neubau kommt, ist gut. Die Kritik daran kann ich nicht nachvollziehen. Das Stuttgarter Ballett und die John-Cranko-Schule sind großartige Botschafter für Stuttgart und für ganz Deutschland. Das sollte man nicht unterschätzen.