Er schießt die entscheidenden Tore und steht dennoch in der Kritik: Mario Gomez durchlebt bei der EM ein Wechselbad der Gefühle.

Charkow - Mario Gomez findet keinen Platz zum Jubeln, nicht nach seinem ersten Tor und auch nicht nach dem zweiten. Er würde seine Freude gerne herausschreien und sie teilen mit den deutschen Fans, er läuft hinaus zur Kurve des voll besetzten Stadions. Aber da ist alles orange, da sitzen nur Niederländer, die ihm frustriert entgegenblicken. „Ich wollte nicht provozieren“, wird der Nationalstürmer hinterher sagen, nachdem er im Stillen seinen großen Triumph genossen hat, den größten in seiner Karriere als professioneller Fußballspieler.

 

Die beiden Tore, die Mario Gomez am Mittwochabend im ukrainischen Charkow geschossen hat, sie sind viel mehr als sein Beitrag zum 2:1-Sieg der deutschen Nationalelf gegen die Niederlande im zweiten Gruppenspiel der Europameisterschaft. Für den 26 Jahre alten Modellathleten bedeuten sie das Ende eines Albtraums, in dem er sich zu Beginn dieses Turniers wiedergefunden hat – ohne zu wissen, warum.

Er jubelte und ahnte nicht, wie über ihn diskutiert wird

Mario Gomez traf bereits im Auftaktspiel dieser Europameisterschaft in Polen und der Ukraine. Es war das entscheidende Tor zum 1:0-Sieg gegen Portugal, es war bei seiner dritten Teilnahme an einem großen Turnier sein erster Treffer. An jenem Samstagabend in Lwiw jubelte er noch wie befreit, überglücklich sprach er anschließend von „meinem wichtigsten Tor“. Und ahnte nicht, in welche Richtung die Diskussionen über seine Person anschließend laufen würden. „Ich habe gedacht: jetzt bist du richtig drin im Turnier“, sagt Gomez im Rückblick, „und dann bekommst du drei Tage lang nur auf die Fresse.“

Der frühere Nationalspieler Mehmet Scholl ist es gewesen, der in seiner Funktion als Fernsehexperte den Torschützen nach dem Portugalspiel vernichtend kritisiert hatte. Als reiner Mittelstürmer sei Gomez für den modernen Fußball nicht geeignet, er bewege sich viel zu wenig und halte sich nur im gegnerischen Strafraum auf, sagte Scholl, den während dieser Partie „die Angst“ beschlich, dass Gomez „sich wund liegt und gewendet werden muss“.

Die Kritik kam aus dem Herzen der „Bayern-Familie“

Es war der Auftakt einer ausgiebigen öffentlichen Debatte, in der es darum ging, ob Gomez mit seiner Spielweise den höchsten internationalen Ansprüchen genügt. Für den Münchner war sie besonders irritierend, weil sie von einem Mann ausgelöst wurde, der ebenfalls Teil dessen ist, was Gomez „die Bayern-Familie“ nennt. Von der neuen Saison an wird Scholl, ein Intimus des mächtigen Clubpräsidenten Uli Hoeneß, Trainer der zweiten Bayern-Mannschaft. Gomez musste daher davon ausgehen, dass Scholl nicht alleine dasteht mit seiner Meinung über den mit Abstand besten Torschützen des Rekordmeisters.

In den Tagen vor dem Portugalspiel hat es sich Mario Gomez verkniffen, zum großen Gegenschlag auszuholen. Ruhig saß er stattdessen im deutschen Medienzentrum nahe dem Teamhotel in Danzig auf dem Podium und fand es, ironisch lächelnd, „überraschend“, dass er mit Scholls Kritik konfrontiert wurde. Als „Ansporn“ empfinde er sie, sagte Gomez tapfer und verwies ansonsten darauf, dass er „nicht einen Grund“ sehe, irgendetwas an seiner Spielweise zu ändern. Schließlich habe genau die ihn dorthin gebracht, wo er heute stehe.

Seinen Erfolg hat sich der gebürtige Riedlinger hart erarbeitet

Mario Gomez, am 10. Juli 1986 im oberschwäbischen Riedlingen als Sohn einer deutschen Mutter und eines spanischen Vaters geboren, ist kein begnadeter Techniker, und der Erfolg war ihm nicht in die Wiege gelegt. Er hat sich alles hart erarbeitet. Vom SSV Ulm kommt er mit 16 ins Jugendinternat des VfB Stuttgart, zwei Jahre später gibt er sein Profidebüt im Champions-League-Spiel beim FC Chelsea. Unter dem Trainer Giovanni Trapattoni wird er Stammspieler, unter Armin Veh 2007 Meister. Am Ende jenes Jahres wird Gomez von der Fachpresse zu Deutschlands Fußballer des Jahres gewählt.

Im Sommer 2009 wechselt Gomez, dem VfB längst entwachsen, für die Rekordablöse von 30 Millionen Euro zum FC Bayern. Der Niederländer Louis van Gaal ist dort sein Trainer und lässt den Neuzugang kühl wissen, dass er es nicht gewesen sei, der Gomez habe verpflichten wollen. Der stolze Stürmer ist frustriert, sitzt meist auf der Bank – und setzt sich schließlich doch noch durch. In der Liga hat Gomez in den vergangenen zwei Jahren in 65 Spielen 54 Tore erzielt, in der letzten Saison gelangen ihm 43 Pflichtspieltreffer. „Ich bin seit Jahren der beste Torjäger Deutschlands“, sagt Gomez.

Der Bundestrainer gab ihm die neue Chance

Dass ihn dennoch die Zweifel der Experten begleiten, liegt daran, dass er auf der internationalen Ebene oft an Grenzen stieß. In der Champions League hat zuletzt nur der argentinische Wunderstürmer Lionel Messi vom FC Barcelona mehr Tore erzielt. Doch nehmen es ihm die Bayern übel, dass er bei der Finalniederlage im eigenen Stadion gegen den FC Chelsea untergetaucht ist. Und in der Nationalmannschaft trug er jahrelang wie eine zentnerschwere Last das Versagen bei der EM 2008 mit sich herum, als er gegen Österreich das leere Tor nicht traf. An seinem Konkurrenten Miroslav Klose schien es seither kein Vorbeikommen zu geben.

Weil Klose angeschlagen ins Turnier gegangen ist, gab der Bundestrainer Joachim Löw Gomez gegen Portugal eine neue Chance, und er hält auch gegen die Niederlande an ihm fest – trotz der ausufernden Diskussionen. Gomez habe „ab und zu am Boden gelegen und das Selbstvertrauen verloren“, sagt Löw nach dem 2:1-Sieg. Er sei aber „kein Spieler, den man lange aufrichten muss. Er findet immer selber seinen Weg – das ist seine große Stärke“.

Gomez spürte eine Zentnerlast auf seinen Schultern

Gomez spürt gegen Holland einen „Druck ohne Ende“, er fühlt sich zu Spielbeginn, „als trage ich mehrere Hundert Kilo auf meinen Schultern“. Dann schießt er die beiden Tore – und zwar exakt so, wie es ein moderner Stürmer macht: Beim ersten nimmt er den Ball mit einer eleganten Drehung mit, vor dem zweiten dringt er von außen in den Strafraum. „Wenn er solche Aktionen öfter macht, müssen wir aufpassen, dass er nicht nach Brasilien geht“, witzelt anderntags sein Freund Bastian Schweinsteiger, der beide Treffer vorbereitet hat.

Als bester Spieler der Partie sitzt Gomez später auf dem Podium vor der versammelten Weltpresse, die nicht verstehen kann, dass es Diskussionen über seine Qualitäten gab. „Gomez ist kein Abstauber, sondern ein Balletttänzer von 1,90 Meter Größe“, wird der Reporter der spanischen Zeitung „El Pais“ schreiben. Und Mehmet Scholl lässt ausrichten: „Ich bin stolz auf Mario!“