Mit dem Auftritt von Martin Kohlstedt definiert die Esslinger Dieselstraße das Konzept "Clubkonzert" neu. Der Pianist legt eine spektakuläre, zweistündige Performance zwischen Neoklassik, Ambient und, ja, Techno hin.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Esslingen - Martin Kohlstedt in der Dieselstraße, das heißt auch: von der Elbphilharmonie nach Esslingen. Das Konzert am Samstagabend zeigt, vielleicht ein wenig überraschend: das geht, sehr gut sogar. Räumlich kann das Esslinger Kulturzentrum natürlich nicht mit dem Pracht- und Protzbau an der Elbe mithalten. Trotzdem bietet es einen passenden, eben anderen Rahmen für das musikalische Phänomen Martin Kohlstedt.

 

Um das Folgende besser zu verstehen, sei hier ein Stück aus Kohlstedts Hamburger Konzert verlinkt. Ja, das extreme Querformat muss so:

Kohlstedt hat selbst die Idee von "modularen Kompositionen" geprägt. Er montiert einzelne Teile von Stücken stets neu zusammen - abhängig vom Konzertort und der jeweiligen Stimmung. Schon deshalb ist es kein Widerspruch, dass er seine zwischen Neoklassik, Ambient und Techno verortete Musik mal in der Elbphilharmonie, mal in der Dieselstraße aufführt. Es sind schlichtweg unterschiedliche Konzerte.

Zur Besprechung des Auftritts vom Samstagabend gehört also die Information, dass die bestuhlte Dieselstraße an diesem Abend bestens gefüllt ist - und dass doch kaum ein Besucher so weit von der Bühne entfernt sitzt, als dass sich nicht eine Idee von Kammermusik in diesen Abend schleichen könnte. Man hört jedes vereinzelte Räuspern, mal fällt eine Flasche um, die Kunstnebelmaschine bläst leise, aber beständig. In diese Umgebungsgeräusche spielt Kohlstedt seine musikalischen Themata hinein.

Seine Stücke beginnen meist mit einer Klavierfigur, die dann symphonisch variiert und aufgebaut werden. Kohlstedt muss nicht in die Tasten hauen, um Effekte zu erzielen. Er legt vielmehr nach Belieben eine an das Klavierspiel gekoppelte Soundfläche über den Pianosound, eine Art Schimmern. So öffnen sich Klangräume, in die er mit seinem Rhodes-E-Piano und einem Synthesizer gern tief eindringt, die er aufbläst und blitzen und donnern lässt, ehe er das Stück wieder zum Ausgangspunkt zurückführt. Dass diese Fantasien wie mit dem Elektroschocker von harten Bässen durchzuckt werden, zeigt einerseits, dass der Musiker die Entwicklung elektronischer (Tanz-)Musik aufnimmt und spricht andererseits ein Publikum an, das normalerweise eher selten in die Liederhalle zum Klavierkonzert geht.

Zurück auf der Pop-Landkarte

Zwischen den Stücken erklärt Kohlstedt, warum er das eine so spielt und das andere gar nicht. Er tritt bewusst aus der Konzertdramaturgie heraus, sucht nach dem jetzt passenden Stück und spielt, um den Abend perfekt abzurunden, eben noch eine zweite Zugabe. Das Publikum folgt Martin Kohlstedt bei dessen Klangreisen, wozu auch die hervorragende Lichtshow ihren Teil beiträgt. Wer partout ein Haar in der Suppe finden will, könnte anmerken, dass die Stücke sich nach einem sehr ähnlichen Schema aufbauen - warum nicht mal beim Synthesizer anfangen statt beim Klavier?

Aber solche Einwände verblassen schon deshalb, weil der Künstler in seinem Tun ganz bei sich ist. Die Intensität, mit der Kohlstedt in seine eigenen Stücke und Improvisationen eintaucht, macht den Abend zu einem beinahe spirituellen Erlebnis. Die Besucher würdigen diese Intensität ganz ausdrücklich und sie werden sich einmal mehr gemerkt haben, wo sie so ein Konzerterlebnis hatten.

Die Dieselstraße hat sich mit geschmackssicherem Händchen und viel Beharrlichkeit auf die Pop-Landkarte zurückgekämpft - und setzt mit diesem Konzert sogar einen neuen Ton im Konzept "Clubkonzert". Zum Vormerken: Am 28. Februar kommt mit dem kanadischen Pianisten Jean-Michel Blais der nächste Neoklassiker nach Esslingen. 


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