Für den jungen Tänzer Martin Schläpfer war das Stuttgarter Ballett ein unerreichtes Traumziel. Als erfolgreicher Choreograf legt er nun auf dem Karrieresprung von Düsseldorf nach Wien einen Stopp hier ein und erarbeitet seine erste Uraufführung mit der Stuttgarter Kompanie.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - „Thank you, artists!“ Künstler nennt Martin Schläpfer die Tänzer im Kammertheater, als er sich bei ihnen für ihren Einsatz beim „Blick hinter die Kulissen“ bedankt; sein Respekt klingt aufrichtig. Der Choreograf hatte sich bei offenen Proben in die Karten schauen lassen, zu erleben war ein feinfühlig dirigierter Arbeitsprozess, den Schläpfer auf Augenhöhe mit den daran Beteiligten moderierte. Wie er Tänzern den Charakter einer Bewegung mit Hilfe anekdotenhafter Vergleiche anschaulich machte, schärfte die Aufmerksamkeit aller.

 

Auch beim Gespräch nach der nächsten Probenrunde im Opernhaus strahlt Martin Schläpfer eine wohltuende Ruhe aus. Aber klar: Der Choreograf, der nicht nur seine erste Stuttgarter Uraufführung für den Ballettabend „Creations“ vorbereitet, sondern nebenbei noch seinen Amtsantritt als Direktor des Wiener Staatsballetts Anfang September, kennt Momente der Anspannung und spricht offen darüber.

Marcia Haydée schickte ihn zurück

Der Abschied aus Düsseldorf, wo Schläpfer nach elf Jahren als Ballettdirektor eine tolle Erfolgsgeschichte hinter sich lassen wird, der Neuanfang in Wien - da ist die Arbeit in Stuttgart für den Choreografen vielleicht ein emotionales Durchatmen. Beim Stuttgarter Ballett, auch in der Stadt fühle er sich sehr wohl, sagt Schläpfer. „Stuttgart hat schon eine andere Ruhe als Düsseldorf, die Menschen sind nicht ganz so gehetzt. Hier bin ich südlicher, näher an meiner alemannischen Heimat, das liegt mir ganz gut“, sagt der 1959 in Altstätten geborene Schweizer.

Es ist das erste Mal, dass Schläpfer, der generell wenige Aufträge von außen annimmt, mit dem Stuttgarter Ballett arbeitet – aber nicht seine erste Begegnung mit der Kompanie. Ende der 70er Jahre wollte er als Tänzer hierher wechseln – von Basel aus, wo Birgit Keil viel mit Heinz Spoerli arbeitete und von Stuttgart berichtete. „Stuttgart war damals in aller Munde, es war das Traumziel für Tänzer in Europa. Doch Marcia Haydée sagte nach dem Vortanzen zu mir: Du machst doch nächstes Jahr mit Spoerli den Till Eulenspiegel! - und schickte mich zurück nach Basel.“

Karriere entlang des Rheins

1999, als Martin Schläpfer die Leitung des Mainzer Balletts übernahm und sein Aufstieg entlang des Rheins begann, zog der Schweizer nach Deutschland. „Deutschland hat mich sehr geprägt“, sagt er, „ich finde es gut, wie man hier die Dinge benennt, sich austauscht, reibt.“ Zur Heimat ist ihm das Land trotzdem nicht geworden. „Eine Stadt, in der ich Ballettdirektor bin, nimmt mir das Behütetsein. Ich fühle mich zu Hause, aber nicht heimisch.“ Die Konzentration auf den Beruf, vermutet Schläpfer, bringe eben eine Unruhe, wenn auch positive, mit sich. „Eine Kompanie zu führen und weiterzubringen, das ist eine Gesamtaufgabe, die sofort nach dem Aufstehen zum Thema wird“, sagt Schläpfer. „Richtig zu Hause, also im Sinne, dass man alles sacken lassen kann, fühle ich mich nur in den Ferien in meinem Tessiner Haus.“

Dass ihm Wien vor allem gesellschaftlich und sozial mehr abverlangen wird, ist ihm klar. Warum tut er sich dann die XXL-Variante mit mehr als hundert Tänzern an? „Ich habe diese Aufgabe nicht gesucht, eigentlich hatte ich ganz andere Pläne. Schlussendlich hat mich der neue Wiener Opern-Direktor Bogdan Roščić überzeugt. Aber meine Arbeit wird in ihrer Essenz die gleiche bleiben. Sie hat sich schon von Mainz nach Düsseldorf nicht verändert.“

Als Tänzer ist er mit der Tradition aufgewachsen

Mit der Kompanie der Oper am Rhein hat Schläpfer bereits zwei Orte bespielt; in Wien wird mit dem Staatsballett, dem Ensemble des Volkstheaters und der Ausbildung an der Akademie, die er neu aufbauen will, der Spagat noch größer. Dafür hat er zwei Intendanten zur Seite und endlich große Ballette im Repertoire wie „Onegin“, „Coppélia“. „In Wien wartet wirklich eine andere Aufgabe auf mich, das ist es, was mich reizt. Wien ist eine Stadt der Kunst, der Musik. Mahler mit den Wiener Philharmonikern? Das ist doch großartig! Ich freue mich auch sehr auf den Bereich der Klassik“, sagt Schläpfer. Er, der als Tänzer bei Spoerli mit der Balletttradition aufgewachsen ist, will da nicht nur delegieren, sondern selbst anpacken. Seine erste Uraufführung soll für eine fusionierte Volkstheater-Staatsballett-Kompanie sein.

Nicht auf Brüche will er in Wien setzen, sondern auf eine kreative Veränderung. Schaut er auf das, was sein Düsseldorfer Nachfolger, der ehemalige Stuttgarter Haus-Choreograf Demis Volpi, plant? „Er scheint mir jemand zu sein, der weiß, was er will und der konzeptionell eine Richtungsänderung vornimmt – was ja auch gut ist.“ Aber der scheidende Direktor, der in Düsseldorf hart um sein Ballettzentrum mit den fünf Studios gekämpft hat, weiß: „Der Tanz hat an Opernhäusern eine fragile Position; jeder Wechsel kann da schwächen. Aber ich muss trotzdem weiter, ich muss mich verändern.“

Stuttgart als Übung für Wien

Steht ihm in Düsseldorf nun eine schwere Zeit des Abschiednehmens bevor? „Nein, das habe ich schon hinter mir. Die emotionale Arbeit findet ja bereits statt, wenn einen die Entscheidung umtreibt und man den Schritt innerlich macht.“ Aber trotzdem könne er sich natürlich nicht frei machen von den Schuldgefühlen gegenüber seinem Ensemble, aus dem ihm nur wenige nach Wien folgen. Die Anforderungen, Klassisches mit dem gleichen Können und der Leidenschaft zu tanzen wie Modernes, müsse ein Tänzer in Wien erfüllen. „Das ist meine Verantwortung als Ballettdirektor und wir haben gut überlegt, wer mitkommt und damit glücklich ist. Unter Umständen sind da Abschiede richtiger.“

Die Arbeit in Stuttgart sei eine tolle Übung für Wien, sagt Martin Schläpfer. „Es ist sehr wertvoll für mich, die Hierarchien und Strukturen einer Kompanie mit einem großen, klassischen Repertoire kennenzulernen. Das ist die Realität, die auf mich zukommt.“ Wenn drei Uraufführungen gleichzeitig entstehen, neben Schläpfer erarbeiten Douglas Lee und Louis Stiens neue Stücke, und dazu „Dornröschen“ auf dem Spielplan ist, muss Ökonomie bei Probenzeit und Personal herrschen. Mit 20 Tänzern erarbeitet Martin Schläpfer sein Stück „Taiyō to Tsuki“, eigentlich hätte er sich eine größere Besetzung gewünscht. Zu Schuberts 3. Sinfonie will er ein heiteres Ballett, in das man eintrete wie in ein Sommerhaus, in kompletter Harmonie mit sich selbst. „Ich stelle mir ein freudvolles Tanzfest vor als Hommage an diese große Kompanie“, sagt Schläpfer.

Ein Sommerhaus mit kühlem Keller

Hinweise auf Oberon und Puck, auf Schubert selbst begegnet man als Anweisungen für die Tänzer bei den Proben. „Es braucht einen Text dahinter“, erklärt Schläpfer seine Arbeitsweise. Auf der Bühne spielen sie keine Rolle mehr. Wichtig ist dem Choreografen, dass man die erstrebte Atmosphäre zwischen Schlaf und Bewusstsein spürt.

Seiner Tiefgründigkeit bleibt Schläpfer treu, indem er, wie er sagt, dem Sommerhaus dann doch noch einen Keller hinzugefügt habe: „Kein Drama, aber einen kühlen Ort.“ Auf 45 Minuten ist „Taiyō to Tsuki“ so angewachsen. Von Toshio Hosokawa, dessen Oper „Erdbeben. Träume“ 2018 in Stuttgart uraufgeführt wurde, kommt die Musik zum Untergeschoss und die Inspiration, den ursprünglichen Titel „Sonne und Mond“ ins Japanische zu übersetzen. Auf Deutsch, so Schläpfer, habe das viel zu beladen geklungen.

Für alles, was nun vor ihm liegt, fühlt sich Martin Schläpfer gewappnet. „Ich habe ja nicht als Choreograf begonnen, sondern als Pädagoge. Als Ballettdirektor in Bern musste ich mit dem Choreografieren anfangen, weil ich kein Geld hatte, um jemanden einzuladen. Ich bin also anders gewachsen als die meisten. Jetzt bin ich 60 und frage mich, wie lange ich an der Schraube weiterdrehen kann. Innerlich fühle ich mich aber an einem Ort angekommen, an dem man nicht mehr mit dem Erfolg steht oder fällt.“