Bekenntnis und Stimmung, Ich und Welt – Martin Walser leistet in seinem neuen Buch „Spätdienst“ und kommt ins Literaturhaus.

Stuttgart - Abbegehren ist eine der Wortfindungen von Martin Walser, an denen seine Leser ihn, den doch immer wieder und gern Aufbegehrenden, erkennen. In einem Satz wie „Das größte Glück ist, wenn ich jemanden anrufe und ihn nicht erreiche“, der bei jedem anderen ein netter Aphorismus wäre, hören sie den Anklang des Existenziellen mit. Solche Sätze und Wörter finden sich nun auch in Walsers neuem Buch „Spätdienst“ wieder – einer Sammlung von Texten schwer zu bestimmender Gattung; „Lebensstenogramme“ nennt sie der Verlag. Das ist angebracht, in doppelter Hinsicht. Vieles ist Wiederaufnahme und war so schon früher zu lesen, etwa von Walsers jugendlichem Alter ego Johann im „Springenden Brunnen“ (1998) oder in den „Balladen“ genannten Texten des Bandes „Das geschundene Tier“ (2007) mit den Zeichnungen von Walsers Tochter Alissa, deren Arabesken nun auch den „Spätdienst“ auflockern.

 

Am ehesten zu vergleichen ist das Buch in seiner formlosen Form mit den „Meßmer“-Bänden. Einiges, was hier den Zeilenfall des Gedichts annimmt, hatte dort die Gestalt von zwei oder drei Zeilen Prosa (zugegebenermaßen lyrischer Prosa), so gleich der Auftakt: „Ich möchte sein wie ein Wunsch, / auf der Schwelle möchte ich stehen, / ein Tag sein vor seinem Anbruch, / noch nicht gewesen sein möchte ich.“

Sätze, die Geltung haben sollen

Welchen Namen man den Texten geben mag und wie sie gesetzt sind, ist aber auch gar nicht so wichtig. Eines ist klar: Diese Sätze, wann auch immer zuerst hingeschrieben, sollen Geltung haben bis heute, da ihr Verfasser im 92. Lebensjahr steht, und darüber hinaus. Sie lesend, entdeckt man denn auch viel aus dem Walser’schen Lebenswerk Vertrautes – Versagenserfahrung, Zumutungen und ziemlich häufig „Schmerz“, „Sehnsucht“ und „Unglück“, ja „Hass“ – einerseits.

Andererseits sind dem so geschundenen Ich immer wieder Momente schierer Erleuchtung vergönnt, und die Schenkerin ist ausnahmslos die Natur, die Landschaft: „Silber treibt von West vorbei, / die Berge stehen blau. / Ein Vogel klagt. / Ich schließe mich nicht an.“ Freilich ist dies alles nur vorhanden, weil das Ich es wahrnimmt; „was ich nicht sehe, gibt es nicht“.

In diesen meist nur vier bis sechs Zeilen umfassenden lyrischen Texten benennt das Ich die Naturdinge und lässt sich von ihnen auf sich selbst zurückverweisen, aus freien Stücken. Anders geht es zu in den Tiraden, mit denen die Demütigungen durch nicht näher benannte Feinde und „Herren der Moral“ bearbeitet werden, auffallend häufig die rezensorischen Untaten bekannter Kritiker. In Walsers Echos wirken die wie gewalttätige Übergriffe der Welt (bedeutet: der Welt des kulturellen, literarischen, medialen Betriebs) auf den Schreibenden. So etwas ist offenbar nur durch Sarkasmus in Knittelversen in Schach zu halten: „Auch wenn Höbel lobt, klingt es fatal, / er ist im Spiegel Häme-Meister. / Sein Stil-Parfüm riecht streng anal, / wo etwas blüht, darauf . . .“ Der Rest ist dann keine Überraschung mehr. Das hat nun mit Walsers selbstgewählter Devise, „etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist“ nicht mehr viel zu tun. Eher schon dies: „Sich in Verse hüllen, als wären es / Schutzgewänder, schön / weltabweisend . . .“

Ein Extrakt aus einem Oeuvre

Diese Verse variieren häufig das Thema des Wunschs nach einem besseren Anderen, charakteristischerweise eingeleitet mit Formeln wie „Ich wäre gern“ oder „ich möchte . . . sein“. Sich das Glück zu wünschen, ist trivial, aber Martin Walser, der vor Jahrzehnten schon den Ausdruck „Unglücksglück“ gefunden hat, lässt es dabei nicht bewenden, sondern bringt das Gegenteil des Eindeutigen und damit das eigentlich Unmögliche ins Spiel. Und dann soll die Welt auch gar nicht mehr draußen bleiben: „Eine Lücke möchte ich sein im Zaun / der Welt. Hereinströmen sollte durch mich / das, was nicht hineindarf. Blühen möchte ich / im Eis der Gegenwart. Stürzen in jede Höhe.“

Der Extrakt aus Walsers reichem Oeuvre wäre nicht vollständig ohne jene Sätze, die scheinbar einfach auf den Punkt bringen, was Leben und Mitwelt einem zumuten. Man merkt sie sich augenblicklich: „Das Alter ist ein Zwergenstaat, regiert von jungen Riesen.“ Das gehört eben auch zu diesem Autor, wenn er „aus Erfahrungen Gedanken macht“: dass er alles, was daran schmerzhaft ist, der Sprache und ihrer verwandelnden Wirkung anheimgibt. Sie ist es, die bleibt. Sonst nichts.