Mehr als 130 Menschen werden bei einer Attacke der Taliban auf eine Schule in Pakistan getötet. Viele Schüler sterben im Kugelhagel. Der Angriff der Dschihadisten gilt als Zeichen ihrer Schwäche. Trotzdem könnte der Schock darüber den Terroristen nutzen.

Peshawar - In den Klassenräumen der Army Public School an der Warsak Road in Pakistans Grenzstadt Peshawar hockten Hunderte von Kindern in ihren grün-weißen Uniformen über Examensarbeiten. Die Gebäude liegen in dem als relativ sicher geltenden Viertel Army Housing Colony. Uniformen gehören in der Gegend zum Alltag, und so denkt sich niemand etwas dabei, als die Männer in schwarzen Uniformen des Frontier Corps durch einen Hintereingang die Schule betreten. Doch dann zücken sie ihre Waffen, schießen um sich, verprügeln Kinder und nehmen manche von ihnen als Geisel. „Sie sagten uns: Betet!“, erzählt der elfjährige Ali, der als einziger einer Gruppe von zehn Jungen überlebt hat, „dann schossen sie.“

 

„Sie sollen unseren Schmerz spüren“

141 Tote – die große Mehrheit davon Kinder – fordert der Anschlag, zu dem sich innerhalb von Minuten die pakistanische Extremistengruppe Therik-e-Taliban Pakistan (TTP) bekennt. „Wir haben unseren sechs Kämpfern Anweisung gegeben, kleine Kinder zu verschonen“, rechtfertigt ihr Sprecher Muhammad Khorasan die Aktion am Dienstagmorgen, die ohne Zweifel bislang eine der barbarischsten Angriffe der radikalislamischen Rebellen darstellt. „Aber wir wollen, dass die Militärs unseren Schmerz fühlen.“

Der Mann, der sich als Heiliger Krieger betrachtet, behauptet, das blutrünstige Massaker stelle den Anfang einer neuen, brutalen Offensive dar: „Wir werden so lange jede Institution angreifen, die mit den Streitkräften verbunden ist, bis die Armee ihre Operationen gegen uns einstellt und aufhört, unsere Gefangenen zu ermorden.“

Kaum eine Woche, nachdem Malala Yousufzai gemeinsam mit dem indischen Kinderrechtler Kailash Satyarthi in Norwegens Hauptstadt Oslo den Friedensnobelpreis wegen ihres Kampfs für das Recht auf Erziehung in Pakistan erhalten hat, schlagen die lokalen Talibanmilizen wieder einmal dort zu, wo sie am wenigsten Gegenwehr zu befürchten haben. Malala überlebte ein Attentat der Milizen in ihrem Schulbus in Mingora, der Hauptstadt des Swat-Tals, trotz eines lebensgefährlichen Kopfschusses. Viele der Kinder in der Armeeschule in Peshawar haben weniger Glück.

Zwischen Toten liegend kommen viele von ihnen mit blutgetränkten Schuluniformen in den Krankenhäusern der gewaltgewöhnten Stadt Peshawar an. Den Hospitälern gehen bald die Blutkonserven aus, und sie bettelten mit einem Unterton von Verzweiflung um Blutspenden.

Nachdem die Talibankämpfer mordend durch die Schule gezogen sind, verschanzen sie sich in dem Gebäude des Schulleiters. Soldaten, die auf den Dächern der Schule Stellung beziehen, decken den letzten Zufluchtsort mit einem Kugelhagel ein. Gegen Mittag sind dann heftige Explosionen zu hören. Aber die Angreifer wehren sich stundenlang – und versuchen, sich hinter Geiseln zu verschanzen.

Eltern fahren verzweifelt von Hospital zu Hospital

Je länger die Kämpfe dauern, umso mehr Mühe haben Polizeibeamte, von Angst um ihre Kinder getriebene Eltern zurückzuhalten. Ein Elternpaar trägt den toten Sohn, dessen pausbäckiges Gesicht durch eine Glasscheibe zu sehen war, schon von einem Krankenhaus nach Hause, während an der Schule noch die Kugeln fliegen. „Wo ist mein Junge?“, schreit eine Frau im Reading-Krankenhaus. Sie hat bereits erfolglos in einem anderen Hospital unter den Verwundeten und Toten gesucht. Aber auch im Reading-Spital kann sie ihn nicht finden. Niemand wagt, der Mutter zu erklären, dass der Junge vielleicht zu den Gefangenen gehört, die die Talibanangreifer noch am Dienstagnachmittag in ihrer Gewalt haben. Etwa acht Stunden nach dem Beginn der Attacke stürmen Sicherheitskräfte die Schule und töten die Angreifer.

Schon seit langem sind Pakistans Generäle nicht mehr so hart von jener Gruppierung attackiert worden, der sie selbst seit den 80er Jahren zur Macht verholfen hatten. Noch immer schwankt das Verhältnis des Staates zu den Taliban zwischen Verfolgung und Duldung. Erst am Wochenende hatte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani an Islamabad gewandt erklärt: „In der Region sollte jeder verstanden haben, dass es keinen guten und schlechten Terror gibt.“

Aber die Generäle im Armeehauptquartier in der Stadt Rawalpindi machen weiter einen Unterschied zwischen Extremisten, die von pakistanischem Boden aus in der ausländischen Nachbarschaft agieren, und den Fanatikern, die als Gefahr für die eigene Nation betrachtet werden. „Wir wissen, dass Armeechef Raheel Sharif fest entschlossen ist, die pakistanischen Taliban zu vernichten“, erklärte ein europäischer Diplomat gegenüber dieser Zeitung.

Vor einigen Monaten starteten Pakistans Streitkräfte erstmals nach Jahren des Zögerns eine Offensive gegen die Extremisten in Nordwasiristan an der Grenze zu Afghanistan. Dort gaben sich während der vergangenen Jahre Mitglieder von Al-Kaida, Kämpfer der usbekischen Gruppe „Islamischer Dschihad“ und auch Heilige Krieger aus Deutschland ein Stelldichein mit afghanischen Taliban und ihren pakistanischen Gefährten von der TTP. Bis auf einige versprengte Überbleibsel von Al-Kaida sind die meisten Ausländer gemeinsam mit knapp 2000 Taliban vom Hindukusch und aus Pakistan längst Richtung Irak und Syrien aufgebrochen, um sich dort der Terrorgruppe „Daish“, wie Islamischer Staat (IS) auf Arabisch heißt, anzuschließen. Die zurückgebliebenen Kämpfer von der TTP müssen gegenwärtig feststellen, dass ihr einst für sicher gehaltenes Nordwasiristan plötzlich zum Grab werden könnte.

Die Taliban stehen in der Defensive

„Pakistans Militärs haben gelernt. Sie bombardieren die Verstecke jetzt so lange, bis die Gegner weich sind, und schicken dann Bodentruppen“, sagt ein Experte. Der Luftkrieg ist so heftig und intensiv, dass Pakistans Generäle offenbar sogar darauf verzichten, die Grenze zum alten Feind Indien mit Flugzeugen zu überwachen. Hunderttausende von Zivilisten flüchteten vor den Kämpfen ins benachbarte Afghanistan und in die Städte Pakistans.

Es ist ein schmutziger, gnadenloser Krieg. Gefangene Soldaten werden von der TTP häufig kurzerhand geköpft – und die Messer sind dabei nicht übermäßig scharf. In der Umgebung von Peshawar wiederum werden seit Wochen morgens misshandelte Leichen von Talibankämpfern gefunden. Menschenrechtler gehen davon aus, dass sie Opfer „außergerichtlicher Justiz“ wurden. Aber die Generäle bekämpfen einen Feind, der lange freie Hand hatte. Das moderne Pakistan ist ein Land, in dem die Steinzeitideologie der dogmatischen Fundamentalisten und autoritärer Herrschaft längst attraktiver erscheint als Toleranz.

„Es ist doch gut, wenn die Mädchen so denken“, schwärmte am Wochenende Maulana Abdul Aziz, der Leiter der Roten Moschee in Pakistans Hauptstadt Islamabad. Der Mann freute sich, dass die Schülerinnen seines Mädchenseminars öffentlich ihre Unterstützung der Terrorgruppe Daish, wie Islamischer Staat (IS) auf Arabisch heißt, verkündet hatten. Tage nach der Solidaritätserklärung sieht Pakistans Regierung unter Führung von Nawaz Sharif immer noch keinen Anlass, legale Schritte gegen die Moschee und ihre Terrorsympathisanten einzuleiten.

Religiöser Extremismus gehört in Pakistan zum Alltag wie Modeschauen in der Wirtschaftsmetropole Karachi. Kamal Siddiqi, der Chefredakteur der liberalen Tageszeitung „Express Tribune“, glaubt: „Die Pakistaner sind nicht bereit, die Taliban oder religiöse Extremisten für den Terror verantwortlich zu machen. Sie finden es einfacher, unseren Erzfeind Indien zu beschuldigen.“ Tatsächlich gibt es im Land Theorien, wonach sich Inder als Taliban verkleiden, um Anschläge zu verüben.

Das Land steckt im Terrorsumpf fest

Regierungschef Sharif findet nichts dabei, in seiner Heimatstadt Lahore öffentlich mit Hafeez Saeed, dem Begründer der Terrorgruppe Lashkar-e-Toiba, aufzutreten. Saeed wird per Haftbefehl von den USA gesucht, weil seine Gruppe vor ein paar Jahren Indiens Wirtschaftsmetropole Mumbai attackierte. Lashkar-e-Toiba unterhält zahlreiche Koranschulen mit insgesamt 20 000 Studenten in der Provinz Punjab, zu der neben Lahore auch die Hauptstadt Islamabad gehört. Deren Anhänger gelten bei Therik-e-Taliban Pakistan (TTP) als besonders fanatisch, zu Selbstmordattentaten in Pakistan und im benachbarten Afghanistan bereit.

Der lange Arm der Talibanmilizen reicht nicht nur weit in die pakistanische Politik. In der Hafenstadt Karachi, in der mehr Paschtunen leben als im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, kontrollieren sie einen großen Teil der Außenbezirke der 20 Millionen Einwohner zählenden Metropole. Sie bekämpfen die paramilitärische, aber säkulare Partei MQM und ermordeten während des vergangenen Jahre nahezu die gesamte Führung der Antiterroreinheit der Polizei.

„In Pakistan wagt kaum noch jemand, gegen die Taliban zu ermitteln“, sagt ein ausländischer Kriminalbeamter, der lange als Verbindungsbeamter in Islamabad tätig war. „Wer Warnungen in den Wind schlägt, wird umgebracht.“ Es gilt als offenes Geheimnis, dass alle großen Unternehmen des Landes den Extremisten Millionen an Schutzgeld zahlen. Manche schwerreichen Unternehmer machen nicht einmal ein Geheimnis aus ihrer Unterstützung. Der Bau-Tycoon Malik Riaz finanzierte den Wiederaufbau der Roten Moschee, nachdem sie 2007 bei einem Kampf der Armee gegen die Taliban zerstört worden war.

Dennoch markierte Premierminister Sharif am Dienstag den starken und entschlossenen Regierungschef. „Der Angriff ist ein Zeichen der Verzweiflung der Taliban“, erklärte er. Kamal Siddiqi, Chefredakteur der englischsprachigen Tageszeitung „Express Tribune“ in Karachi, zeigt sich nicht ganz so zuversichtlich: „Die Taliban sind unter Druck, das stimmt. Aber dann schlagen sie immer in den Städten zu. So lange, bis die Leute einen Stopp der Operation gegen die Extremisten verlangen.“