Am Sonntag läuft in der ARD der „Polizeiruf“ aus München. In „Fieber“ ermittelt abermals Hanns von Meuffels, also der große Menschendarsteller Matthias Brandt – ein Porträt.

Stuttgart - Kein Drehbuchautor hätte diese Szene besser erfinden können. Schauplatz ist ein Café im Herzen Berlins, wo Matthias Brandt gerade dabei ist, seine Liebe zu gebrochenen, mit sich selbst ringenden Charakteren zu erklären. „Das entspricht meiner Wahrnehmung. Menschen sind ja selten mit sich im Reinen, sie sind widersprüchliche Individuen“, sagt der Schauspieler. Und während er noch dafür plädiert, „einen zweiten, dritten, vierten Blick“ auf Menschen zu werfen, bevor man sie kategorisiert, entfährt ihm urplötzlich ein schnelles, gedämpftes „Ist ja toll!“ – und Wahrnehmung und Blick gleiten vom Gesprächspartner ab und hinüber zu den beiden Herren, die das Café betreten haben.

 

Es sind Zwillinge. Zwillinge, die nicht nur eine völlig identische Gestalt haben, sondern auch ein völlig identisches Kostüm tragen. Die beiden kleinen, gedrungenen Männer stecken in grauen Filzanzügen, haben sich weiße Seidenschals um den Hals geworfen, schwarze Hornbrillen auf die Nase und graue Filzhüte auf den Kopf gesetzt. In ihrer etwas vermoderten Exzentrik gleichen sie sich bis aufs Haar, sogar bis aufs Barthaar, das sie sich zuletzt vor vier, fünf Tagen geschnitten haben.

„Ist ja toll“, flüstert Brandt also mitten hinein ins Pingpong von Frage und Antwort – und dass diese ihr Zwillingsdasein bizarr auf die Spitze treibenden, auch kindgreisenhaft wirkenden Männer den Schauspieler ungemein faszinieren, dass sie sein Denken und Fühlen aufs Allerhöchste elektrisieren, diese euphorisierende Sekunden-Erregung ist förmlich mit Händen zu greifen. Kein Regisseur der Welt hätte diesen Moment der Irritation punktgenauer inszenieren können, als es der Zufall getan hat: Brandt feiert das widersprüchliche Individuum – und prompt setzen sich zwei Klone an den Nachbartisch, als wollten sie mit ihrer Doppelexistenz das eben gesungene Hohe Lied der Individualität verspotten und verhöhnen.

Mikroskopisch feine Gesten

Brandt genießt derart unverhoffte Augenblicke. Mehr noch: er scheint sie auch zu brauchen, schließlich will er mit seiner Kunst der Darstellung immer weiter und weiter kommen. Die Zwillinge im Café wären jetzt eine ernste Herausforderung für ihn, denn selbst der dritte und vierte Blick würde wohl nicht genügen, um dem inneren Betriebsgeheimnis des merkwürdigen Männerpaars auf die Spur zu kommen. Aber es sind ja genau diese schwer zu knackenden Menschenrätsel, die er so liebt – so liebt und so schätzt wie den fünften, sechsten, siebten Blick und das schillernde Bild, das er damit von seinen Figuren erhält. Matthias Brandt schaut beharrlich hin. Und das zahlt sich aus. Der 1961 als Sohn des späteren Bundeskanzlers Willy Brandt in Berlin geborene Schauspieler ist einer der besten seiner Generation.

Warum das so ist, kann man am Sonntag im „Polizeiruf 110“ aus München wieder sehen. Er heißt „Fieber“ und beschert uns den Ausnahmespieler bereits zum vierten Mal als Kommissar: Bei einer Geiselbefreiung wird Hanns von Meuffels schwer verletzt und im Krankenhaus notoperiert. Als er unmittelbar danach von der Ärztin erfährt, dass der Eingriff gut verlaufen ist, will er sich bei ihr für die Lebensrettung bedanken, wobei die dem Patienten zur Verfügung stehenden Mittel naturgemäß sehr eingeschränkt sind. Gerade aus der Narkose erwacht, noch im Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen, macht Brandt also Folgendes: Er weitet um ein Winziges die Augen. Und er zuckt für eine Sekunde mit den Mundwinkeln. Mehr nicht. Nur das. Und mehr muss er auch nicht machen, denn mit dieser mikroskopisch feinen, im Nu auch wieder verwehenden Gestik hat sein Meuffels schon alles erschöpfend mitgeteilt: den Dank, die Erleichterung und die Freude, noch am Leben zu sein.

Wie aber gelingt Matthias Brandt so ein minimalistisches Kunststück? Wie macht er sein stummes Gesicht zur Bühne eines beredten Geschehens?

Die Kamera liest den Körper

„Ich muss das, was geschieht, präzise denken“, sagt er. „Und wenn meine Gedanken tatsächlich präzise sind, bilden sie sich im Körper ab.“ Das klingt in der Theorie jetzt verblüffend einfach, diese Umsetzung von Geist und Gefühl in die überzeugende Körpersprache eines „Dankeschöns“, ist aber in der Praxis doch schwer zu bewerkstelligen. Seine Instrumente, sagt Brandt weiter, Körper und Sprache, müsse ein Schauspieler schon beherrschen, um eine Figur psychologisch zu beglaubigen. Und wenn dann noch eine kluge Kamera hinzukäme, die diesen Körper lesen und die Nerven-Zuckungen aufs Genaueste abtasten könne, dann . . . Ja, dann wird manchmal auch Fernsehgeschichte geschrieben, wie damals 2003, als die ganze Familie Brandt den Atem anhielt. In dem Film „Im Schatten der Macht“ von Oliver Storz spielte Matthias den Kanzlerverräter Günter Guillaume, also jenen Mann, über den fast dreißig Jahre zuvor sein Vater Willy Brandt tatsächlich gestürzt war – und er spielte ihn mit jovialer Seifigkeit so souverän, dass es danach mit der Karriere bergauf ging.

Rolle folgte auf Rolle, Auszeichnung auf Auszeichnung. Ob im „Stich des Skorpions“ (2004) oder „In Sachen Kaminski“ (2005), ob in „Entführt“ (2009) oder im „Tod einer Schülerin“ (2010) – an der Seite nicht minder exzellenter Spielerinnen wie Juliane Köhler oder Corinna Harfouch wurde Brandt zu einem Garanten des Erfolgs. Und man sah dabei, dass er auch seinen gesamten Körper einzusetzen wusste, dass er toben, wüten und verzweifeln konnte wie ein alttestamentarischer Hiob, der das über ihn verhängte Unglück nicht zu fassen vermochte: In „Absturz“, dem Leipziger „Tatort“ von 2010, spielte Brandt einen Vater, der seinen Sohn verloren hatte. Jammernd, wimmernd, heulend, sich mit Alkohol und Rockmusik betäubend, fiel er tiefer und tiefer – und wem da angesichts der Ohnmacht und Einsamkeit dieses „Absturzes“ nicht das Herz brach, der hatte keins.

Sein wichtigstes Organ: die Augen

Matthias Brandt, der Minimalist, kann eben auch mit großen Gesten spielen. Er kann aufdrehen und zu satirischen Zwecken sogar effektvoll dröhnen – und dieses Zeigen und Herzeigen, diese auf eine überscharfe Körpersprache setzende Technik, die er im Theater gelernt hat, steht dem Verwandlungskünstler noch immer zur Verfügung. Mit Wehmut denkt der 52-jährige Brandt deshalb auch an sein erstes Schauspieler-Leben zurück, das er auf der Bühne zugebracht hat – und zwar so lange, wie dort „die Tugenden der psychologischen Darstellung“ gefragt waren. Seine Tugenden also, wie wir ergänzen, seine ureigenen virtuosen Fähigkeiten, denn der Seelenforscher neigt auch rhetorisch zum Understatement. Und spielerisch, wie gesagt, sowieso: Liebe und Hass, Freude, Verstörung und Verbitterung, das ganze Auf und Ab der Existenz spiegelt sich in seinem weichen, schrägen und verknautschten Gesicht wider, in dem eben auch sein wichtigstes Organ sitzt, das Augenpaar.

Brandts Augen drücken unendlich viel aus und nehmen unendlich viel wahr. Das Gespräch im Café ist beendet. Am Nachbartisch sitzen noch immer die beiden Klone, bereit für den siebten, achten und neunten Blick des großen Menschendarstellers.