Ein Arzt der Filderklinik schilderte in dieser Zeitung jüngst, dass viele Patienten in seine Notaufnahme kämen, ohne schwer erkrankt zu sein oder unbedingt ärztliche Hilfe zu benötigen. Wie sieht es in anderen Stuttgarter Notaufnahmen aus?

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - „Mein Ohr ist zu“, diese Klage bekam Monika L. (Name der Redaktion bekannt) oft zu hören. Bei der Hals-Nasen-Ohren-Ärztin erschienen oft auch Patienten wegen harmlosem Ohrenschmalz im Hörgang auch häufig in der Notaufnahme des Marienhospitals, wo Monika L. lange Jahre gearbeitet und im Nachtdienst regelmäßig Notfälle aufgenommen hat. Die Ärztin beobachtete, dass die Zahlen der Bagatellfälle m Laufe von etwa zehn Jahren enorm zugenommen haben. „Früher hatte man als HNO-Arzt vielleicht einen Notfallpatienten im Nachtdienst, zuletzt waren es rund 30“, sagt sie. Verantwortlich dafür macht Monika L. das Anspruchsdenken der Menschen: „Gerade jüngere Leute haben oft verinnerlicht, dass sie alles zu jeder Zeit tun können: einkaufen, Sport treiben – und eben auch einen Arzt aufsuchen“.

 

Der Ärztliche Direktor der Klinik für Innere Medizin 2 am Marienhospital, Dr. Stefan Reinecke, bestätigt, dass „es in der Notaufnahme eine Zunahme an Patienten gibt, die leichter erkrankt sind“. So kamen von Mai bis Juli 2018 pro Monat 2700 Patienten in die Notaufnahme – von denen lediglich 1030 stationär aufgenommen wurden.

Die Zunahme an Patienten mit Bagatellbeschwerden gefährdete die tatsächlichen Notfälle

Sorgen bereitet Reinecke die Zunahme an Patienten mit Bagatellbeschwerden aus mehreren Gründen: Zum einen gefährde sie die Versorgung der tatsächlichen Notfälle, zum anderen sei die Vergütung der ambulanten Patienten in der Regel nicht kostendeckend: Die etwa 32 Euro pro Fall können die Kosten in einer Notaufnahme von etwa 120 Euro nicht ausgleichen. Das Krankenhaus bleibe auf den Kosten sitzen.

Auffällig sei, dass die Patienten immer häufiger zu Zeiten kämen, zu denen auch ein Hausarzt seine Praxis geöffnet hat. Seiner Überzeugung nach sind die Gründe hierfür vielfältig. Besonders hervor hebt er jedoch die „rückläufige Kapazität an hausärztlicher Versorgung in Stuttgart“ sowie den Wegfall der klassischen offenen Sprechstunde in vielen Hausarztpraxen: „Früher konnte man gleich zum Arzt gehen und warten, bis man an der Reihe war – heute muss man sich meist einen Termin geben lassen. Das kann dazu führen, dass der Patient in die Notaufnahme fährt, weil eine subjektive Dringlichkeit besteht“, sagt Reinecke.

„Ein medizinischer Laie kann oft nicht wissen, wann es ernst wird.“

Auch das Robert-Bosch-Krankenhaus ist davon betroffen, dass Menschen direkt in die Notaufnahme kommen, statt zum Hausarzt zu gehen oder auf einen Termin beim Facharzt zu warten. Das bestätigt Prof. Dr. Mark Dominik Alscher, Geschäftsführer des Robert-Bosch-Krankenhauses. Die meisten kämen an den Wochenenden. Neu sei das Phänomen indes nicht. Bereits von 2007 bis 2014 seien die Zahlen gestiegen, seither seien sie relativ stabil. „Rund 25 bis 30 Prozent der Selbsteinweiser sind tatsächliche Notfälle“, so Alscher. „Ein medizinischer Laie kann oft nicht wissen, wann es ernst wird.“

Der Geschäftsführende ärztliche Direktor des Klinikum Stuttgart, Prof. Jan Steffen Jürgensen, sieht das ähnlich: „Niemand kommt leichtfertig in die Notaufnahme, nimmt Wartezeit und Strapazen auf sich. Mindestens subjektiv hat jeder Besucher ernsthafte Sorgen, die wir ernst nehmen müssen.“ Dennoch verzeichne auch das Klinikum in der Notaufnahme eine hohe Quote an Patienten, die kein Notfall sind.

Insgesamt werden jährlich mehr als 100 000 ambulante Notfälle im Klinikum versorgt. Im Katharinen- und Olgahospital sind es im Jahr mehr als 77 000. „43 Prozent der ambulanten Notfälle werden akut stationär aufgenommen. Aber: Etwa genauso häufig sehen unsere Notfallmediziner keine dringliche Behandlungsnotwendigkeit“, sagt Jürgensen. „Hier wäre allen – vor allem den Patienten – gedient, wenn wir intelligenter steuern könnten.“ Seiner Meinung nach würden zum Beispiel Konzepte mit ambulanten Partnern helfen, für jeden Patienten schneller die passende Behandlung zu sichern.

Dafür sei von Seiten der Politik einiges auf den Weg gebracht worden, etwa die sogenannten Portalpraxen, die Notaufnahmen vorgeschaltet sind. Sie sind Teil des Krankenhausstrukturgesetzes von 2016. In den Praxen soll geschultes Personal entscheiden, welche Patienten zum Hausarzt beziehungsweise ärztlichen Notdienst verwiesen werden können und welche für die Notaufnahme sind. „Wir haben im Olgahospital eine Portal- und Notfallpraxis in unmittelbarer Nachbarschaft der Notaufnahme – und wir haben auch für das Katharinenhospital Pläne, eine Portalpraxis zu realisieren“, sagt Jürgensen. Hoffnung setzt er in das Projekt Doc direkt der Kassenärztlichen Vereinigung. „Patienten erhalten dort telefonisch eine Ersteinschätzung“. Sie werden dann entweder in die Notaufnahme verwiesen, telefonisch beraten, oder sie erhalten einen kurzfristigen Facharzttermin. Bisher ist die Notfallnummer noch neu und relativ unbekannt. „Generell könnte Doc direkt die Notaufnahmen aber entlasten“, sagt Jürgensen.