Die westliche Verteidigungsallianz rüstet in Osteuropa weiter auf und überlegt, wie sie auf Moskaus Nukleardoktrin antworten soll.

Brüssel - Schon auf dem Papier war abzulesen, dass ein Paradigmenwechsel bevorsteht: Mit den sogenannten Rückversicherungsmaßnahmen für osteuropäische Nato-Mitglieder, die sich nach dem russischen Vorgehen in der Ukraine ebenfalls bedroht sehen, erklärten die Staats- und Regierungschefs der Allianz Anfang September vergangenen Jahres in Wales Russland quasi wieder zum Gegner – fast ein Vierteljahrhundert nach Ende des Kalten Krieges. Was dies bedeutet, wird allmählich klar – etwa dadurch, dass vor wenigen Tagen erstmals eine superschnelle Eingreiftruppe, „Speerspitze“ genannt, mit 2100 Mann eine Verlegung nach Osteuropa trainierte.

 

Die Nato-Verteidigungsminister haben am Mittwoch die nächste Phase der Aufrüstung eingeleitet. Bei ihrem Treffen in Brüssel beschlossen sie eine Reihe von Maßnahmen, die die Militärs seit dem Wales-Gipfel vorbereitet haben. Das sichtbarste Zeichen ist die Aufstockung der Nato Response Force von zurzeit 13 000 auf 40 000 Mann, die Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg schon im Vorfeld angekündigt hatte. Dabei handelt es sich um jene Truppenteile zu Land, Wasser und in der Luft, die schnell einsatzbereit sein sollen – angefangen bei der zurzeit von der Bundeswehr geführten „Speerspitze“, die nach zwei bis sieben Tagen vor Ort sein soll, bis hin zu nachgelagerten Einsatzkräften, die nicht länger als 120 Tage brauchen sollen. All diese Zeitspannen sind verkürzt worden im Sinne einer höheren Einsatzbereitschaft.

Der Nato-Oberbefehlshaber erhält daher künftig das Recht, Truppen im Inland zusammenzuziehen. So kann eine Verlegung ins Ausland nach einer parlamentarischen Zustimmung schneller vonstatten gehen. Kommandiert werden sollen alle neuen Aktivitäten in Osteuropa von einem an der deutsch-polnischen Grenze neu ausgebauten Hauptquartier in Stettin, an dem auch die Bundeswehr beteiligt ist.

Bis Oktober soll gemeinsame Strategie entwickelt werden

Das Bündnis hält sich weiter zugute, eine Aufrüstung zu betreiben, die nicht der Nato-Russland-Akte von 1997 widerspricht. Diese verbietet in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten neben Atomwaffen „permanente substanzielle Streitkräfte“. Daher sollen die Verbände der Eingreiftruppe „nur“ abwechselnd nach Osteuropa hineinrotieren, wo sie in sechs Begrüßungszentren Infrastruktur und militärisches Gerät schon vorfinden sollen.

In diesem Zusammenhang steht auch die Ankündigung von US-Verteidigungsminister Ashton Carter vom Dienstag, als er in Estlands Hauptstadt Tallinn die Verlegung unter anderem von Panzern und Infanterie-Fahrzeugen in die baltischen Staaten sowie nach Polen, Rumänien und Bulgarien bekannt gab. Für diese Länder werden nach einem weiteren Ministerbeschluss vom Mittwoch zudem neue Verteidigungspläne entwickelt. „Das geht weit über ein allgemeines Konzept hinaus, sondern sehr ins Detail“, sagt der amerikanische Nato-Botschafter Douglas Lute. Gibt es zum Beispiel genug Lastwagen und Züge, um im Ernstfall Truppen von Spanien nach Polen zu verlegen? Passen die Spurbreiten?

Verstärkte Präsenz vor Ort im Rahmen vieler zusätzlicher Manöver soll das Abschreckungsszenario komplettieren. Die jüngste Speerspitzen-Übung „Noble Jump“ hat die entsprechenden Reaktion aus Russland hervorgerufen. Und es soll so weitergehen. Allein die Bundeswehr wird in diesem Jahr mit insgesamt 4400 Soldaten bei 17 Übungen in Osteuropa vertreten sein. 150 Deutsche sind inzwischen dort permanent stationiert. Im Herbst übernimmt die Luftwaffe wieder die Kontrolle des baltischen Luftraums.

Gefahr, dass sich Russland und Nato aufschaukeln

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sagte in Brüssel, ihr gehe es dabei darum, „dass wir den europäischen Pfeiler in der Nato weiter ausbauen und festigen“. Sie und ihre Kollegen haben am Mittwoch auch schon über die nächsten Schritte geredet, die die Allianz plant. Bei ihrer nächsten Sitzung im Oktober wollen sie ein Konzept beschließen, wie künftig der sogenannten hybriden Kriegführung begegnet werden soll. Gemeint ist damit der Einsatz aller Mittel unterhalb der offiziellen Kriegserklärung – also von Propaganda via Staatsfernsehen oder Internet bis zum Einsatz von Soldaten ohne Hoheitsabzeichen wie auf der Krim. Da solcherlei Bedrohungen nicht nur mit Militär beizukommen ist, soll bis zum Jahresende mit der Europäischen Union eine gemeinsame Strategie entwickelt werden.

Eine Strategie fehlt der Nato auch noch, wenn es um eine Reaktion darauf geht, dass die Allianz eine neue russische Nukleardoktrin ausgemacht haben will. So soll der Moskauer Generalstab während der Annexion der Krim signalisiert haben, dass man im Fall eines westlichen Eingreifens im Kampfgebiet taktische Atomwaffen einsetzen könnte. So wird es jedenfalls im Brüsseler Nato-Hauptquartier kolportiert, weshalb nun mögliche Gegenmaßnahmen analysiert und beim Ministertreffen im Oktober beschlossen werden sollen. Dass Russlands Präsident Wladimir Putin gerade 40 neue Interkontinentalraketen in Auftrag gegeben hat, befeuert die interne Diskussion noch. Ins Detail geht von der Leyen dabei nicht: „Das wird Thema des Herbstes.“

Die Gefahr, dass sich die Lage dadurch immer weiter aufschaukelt, wird bei der Nato durchaus gesehen. Mehr als dass den Osteuropäern nicht jeder Wunsch erfüllt wird, folgt daraus bisher jedoch nicht. Ursache der Entwicklung, heißt es, sei schließlich die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Die deutsche Ministerin gibt sich dennoch überzeugt: „Wir sind ökonomisch so miteinander verflochten, dass es keine Rückkehr zum kalten Krieg geben kann und darf“.