Christian von Holst, der frühere Direktor der Staatsgalerie, klärt Stuttgarter bei einer Führung über die Hintergründe der Bausünden vor und nach dem Krieg auf.

Stuttgart - Wo beginnt die Stadt? Wo endet sie? Auch Professor Christian von Holst könnte darauf nicht aus dem Stegreif antworten. Dabei ist der Kunsthistoriker, der bis 2006 Direktor der Staatsgalerie war, einer der profundesten Kenner von Stuttgart. So gesehen, kennt er das Alpha und Omega der städtebaulichen und architekturgeschichtlichen Entwicklung Stuttgarts so gut wie wenige. Er dekliniert das, was die Stadt zusammenhält und trennt, virtuos und kenntnisreich durch.

 

Erleben durften dies am Samstag 44 Stuttgarter auf Einladung von Michael Kienzle und der Stiftung Geißstraße sowie der Stuttgarter Zeitung. Unter den Stadtspaziergängern waren auch das Ehepaar Friedlind und Hans-Joachim Maile aus Sillenbuch, „Ich nehme an, dass Herr von Holst sehr kritisch an die Sache rangeht und uns die Schandflecken der Stadt zeigt, die in einem Wahnsinn und einer Abrisswut nach dem Krieg versaut wurde“, meinte Friedlind Maile zum Start des Lehr-Gangs in Stadtkunde.

Das alte Stuttgart war wunderbar

Kaum war es ausgesprochen, da führte sie Christian von Holst vom Hans-im-Glück-Brunnen an das Ende der Marktstraße. Ein Platz, den jeder kennt. Zwischen Breuninger und Schwabenzentrum. Und doch schafft es von Holst – nicht zum letzten Mal in den kommenden zweieinhalb Stunden – durch sein neues Buchstabieren der Szenen eine bewusstere Sicht auf die Dinge zu kreieren. In diesem Fall sind seine Hilfsmittel der Schmerz und die Kontraste. „Es muss weh tun“, sagt er mit knitzem Lächeln und zeigt auf die Stadtautobahn, über die sich auch am Samstagmorgen die Blechlawinen quälen. „Will man die Stadt und ihre Probleme verstehen, muss man an der B 14 ansetzen“, sagt er. Spräche er nicht in ein Mikrofon, das seine Stimme schließlich an einen Lautsprecher übertrüge, keiner der Spaziergänger könnten ihn an diesem Ort verstehen. So aber können sie mit ihm ins alte Stuttgart eintauchen, das bis 1944 komplett erhalten war. Danach griffen Bomben, Maschinen, Politiker und Städteplaner ein. Dass die Hauptstätter Straße einmal ein prachtvoller Boulevard war, kann sich heute beim Anblick der Stadtautobahn kaum einer vorstellen.

Ebenso wenig, dass bereits der geschätzte Architekt Paul Bonatz in der Nazizeit an der autogerechten Stadt plante. „Er wünschte sich neue Verkehrswege und eine Autobahn durch den Schlossgarten. Er war ein Stabilisator dieses unsäglichen Regimes“, berichtet von Holst seinen erstaunten Zuhörern. Was Bonatz angedacht hatte, erledigten nach dem Krieg Oberbürgermeister Arnulf Klett und dessen Stadtbaudirektor Walter Hoss. Nicht fehlen darf an dieser Stelle freilich die Anekdote, dass OB Klett nicht nur in einem Dienst-Daimler, sondern auch in Geschäftswagen von Porsche gefahren wurde. Aber das sind kurzweilige Petitessen angesichts von Kletts Wirken, das Christian von Holst bis heute bewegt.

Der Charlottenplatz ist nur eine Kreuzung

Er zeigt auf den Charlottenplatz und sagt: „Der Charlottenplatz ist kein Platz, er ist die Charlottenkreuzung – ein elendes Verkehrsbauwerk.“ Wieder weckt von Holst Emotionen durch bildhafte Sprache und das Zeichnen von Gegensätzen: „Hier erlebte man früher die ganze Lebendigkeit der Stadt durch die vielen Flaneure und Spaziergänger.“ Weiter sagt er: „Und jetzt kommt der Hammer: „Hier vor der Oper stand die königliche Reithalle von Salucci aus dem Jahr 1839. Sie wurde 1959 zerlegt und verschwand.“ Diese „Rigorosität“ der Nachkriegsstädtebauer macht den Feingeist bis heute „sprachlos“. Und das kommt bei Christian von Holst selten vor. Immer wieder schießen neue Stadtgeschichten wie Kaskaden aus ihm hervor. Schier unerschöpflich. Doch nach zwei Stunden läuft er erst zur Hochform auf. Vor „seiner“ Staatsgalerie besticht er die Stadtspaziergänger mit Details, die dank seiner Passion nie spröde oder langweilig wirken.

Die Bezirksvorsteherin von Stuttgart-Mitte, Veronika Kienzle kann in diesem Moment ihre Begeisterung nicht mehr unterdrücken. „Er ist ein begnadeter Vermesser der Stadt“, entfährt es ihr.

Die 44 Teilnehmer teilen ihre Sicht ebenso wie die folgende von Christian von Holst zur Lösung der Stuttgarter Probleme: „Um die Autofrequenz zu reduzieren brauchen wir dringend eine Umfahrung.“ Er wisse ziemlich genau, wovon er rede: „Um einen Infarkt zu verhindern, legt man Bypässe. Ich habe vier.“