Wie ist es um die Meinungsfreiheit in Deutschland bestellt?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! Dieser Anspruch taugt zur Schlagzeile für das Meinungsklima unserer Zeit. Mit der trotzigen Phrase identifiziert sich ein ganzes Milieu, das die Ansichten anderer gerne mit Hetze und Häme überzieht, aber ständig lamentiert, die „Grenzen des Sagbaren“ würden immer enger gezogen. Auch für diesen Befund gilt der einleitende Satz. Und für den folgenden Text gleichermaßen. Was man wie sagen darf, ist tatsächlich auf vielen Feldern umstritten, da braucht man noch nicht einmal mit ausgewiesenen Unwörtern zu kommen – schon das hier zweimal gebrauchte Generalpronomen „man“ gilt in manchen Kreisen als unschicklich, ja, provokant, auch wenn es nun wirklich keinen männlichen Überlegenheitsanspruch zum Ausdruck bringt. Wie ist es also um die Meinungsfreiheit bestellt?

 

Wenn das Grundgesetz eine Hitliste wäre, müsste sein Artikel fünf auf Platz eins stehen. Dort wird die Meinungsfreiheit garantiert. Und an Meinungen herrscht ja kein Mangel. Es war nie leichter, seine persönlichen Ansichten unters Volk zu bringen. Das Internet quillt über davon. Die Meinungsfreiheit scheint aber im umgekehrten Verhältnis zur Meinungsfülle zu schwinden. Das lässt eine aktuelle Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach vermuten. Die Meinungsforscher vom Bodensee stellen seit 1953 immer wieder die gleiche Frage: „Haben Sie das Gefühl, dass man in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?“

Von den 1960er Jahren bis ins vergangene Jahrzehnt vertraten regelmäßig mehr als zwei Drittel der Befragten die Ansicht: ja, man könne seine Meinung frei äußern. Das hat sich drastisch verändert. Jetzt glauben gerade noch 45 Prozent an eine unbehinderte Meinungsfreiheit. 44 Prozent melden Zweifel an.

Vor 25 Jahren waren nur 15 Prozent der Ansicht, Muslime und der Islam seien „heikle Themen“, bei denen man vorsichtig sein müsse. Heute glauben das 59 Prozent. Patriotismus halten 38 Prozent für heikel (1996 waren es 16 Prozent). Bei der Emanzipation und der Gleichberechtigung von Frauen wird ein Anstieg der Skeptiker, die sich in ihrer Meinungsfreiheit beeinträchtigt fühlen, von drei auf 19 Prozent verzeichnet.

Die Skepsis hinsichtlich der Meinungsfreiheit ist in der Gesellschaft ungleich verteilt. 62 Prozent der AfD-Anhänger sind demnach der Ansicht, sie könnten ihre Meinung nicht frei äußern. Der Befund verweist zurück auf die Einleitung dieses Textes. Aber auch Anhänger von FDP und Linken meinen mehrheitlich, man müsse bei Meinungsäußerungen vorsichtig sein. Die Anhänger der SPD sind in dieser wie in vielen Fragen gespalten. Die Klientel der C-Parteien glaubt überwiegend noch an die Meinungsfreiheit. Bei den Grünen sind es noch mehr.

Der schwarz und grün gefärbte Optimismus hinsichtlich der Meinungsfreiheit repräsentiert den alten und den neuen, hippen Mainstream im gesellschaftlichen Diskurs. Dieser neue, hippe Mainstream ist dort zuhause, wo Meinungsfreiheit zum eigenen Selbstverständnis gehört: im akademisch geprägten Milieu, in der Kulturszene und nicht zuletzt in den Medien.

Das weit verbreiteten Unbehagen hinsichtlich der Meinungsfreiheit ist ein Spiegelbild dessen – ein Reflex auf virulente Konflikte um Fragen von sexueller und kultureller Identität, die dort vorrangig thematisiert werden. Wortwahl und Sprechweise machen einen da schnell verdächtig. Sprachregulierungen, die damit einhergehen, verunsichern die einen, empören die anderen. Während links die Sehnsucht nach einem politisch korrekt bereinigten Vokabular wächst und damit die Neigung, anderen vorzuschreiben, wie sie über wen sprechen und worüber sie sich überhaupt ein Urteil erlauben dürfen, lamentieren rechte Kreise, in denen autoritäre Gesinnung vorherrscht und verbale Tabubrüche zum guten Ton gehören, just über „Gesinnungsdiktatur“ und Redetabus. So kompliziert ist der Tatbestand des Artikels fünf in der Wirklichkeit.

Doch, was meint das denn: Meinungsfreiheit? Um gleich mit einem doppelten Missverständnis aufzuräumen: Meinungsfreiheit ist weder ein exklusives Privileg, das allein die eigene Meinung schützt. Sie wird auch nicht durch unliebsame Meinungen beeinträchtigt, setzt vielmehr die Bereitschaft voraus, für deren Schutz einzutreten. Die Meinungsfreiheit beginnt mit der Akzeptanz anderer Meinungen.

Viele, die für sich lauthals Meinungsfreiheit reklamieren, meinen etwas völlig anderes als das, was im Grundgesetz steht. Sie pochen auf das Recht, anstößige Phrasen möglichst unbehelligt propagieren zu dürfen. Die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit schützt zwar auch fragwürdige Standpunkte und sogar schlichte Dummheiten. Sie schafft aber keine Freiräume für Hetze, Beleidigung oder Hassparolen. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, aber nicht das höchste unserer Verfassung. Von diesem handelt der erste Satz ihres ersten Artikels: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Leitsatz beschränkt die Meinungsfreiheit. Sie gilt nur insofern, als wir nicht die Würde derer in den Schmutz treten (oder auch nur antasten), über die wir unsere Meinung äußern.

An dieser Stelle ist vor einem weiteren Missverständnis zu warnen: Die Meinungsfreiheit schützt nicht nur die Wohlmeinenden – wer auch immer sich dazu zählt. Für den Artikel fünf des Grundgesetzes, so hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, sei es unerheblich, „ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos eingeschätzt wird“.

Hier wäre ein kleines Zwischenfazit angebracht: Von staatlicher Stelle wird die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht nennenswert eingeschränkt. Querdenker mögen das anders sehen. Während der Corona-Pandemie waren allerdings manche Freiheiten beschnitten – für die Meinungsfreiheit galt dies nicht. Im Gegenteil, gerade Leute, die unorthodoxe, bisweilen auch hirnlose Ansichten zur Seuche und zu den politischen Schutzmaßnahmen kundtun wollten, hatten vielerlei Möglichkeiten, diese in die Welt zu krakeelen – so fragwürdig und schwer erträglich dies für andere manchmal auch war.

Meinungsfreiheit lässt sich nicht messen wie die Feinstaubkonzentration in der Luft und nicht beziffern wie die Sieben-Tage-Inzidenz. Das Urteil über sie ist auch eine Frage der Wahrnehmungsperspektive. Insofern hinken Vergleiche mit den frühen Jahren der Bundesrepublik, als noch eine große Mehrheit zufrieden war mit ihrer Meinungsfreiheit. Die meisten waren ja auch weitaus Schlimmeres gewohnt. Jedenfalls dürfte der Meinungskorridor deutlich enger gewesen sein als heute. Vieles, was damals tabu war, ist heute Alltagsgespräch: Ansichten über sexuelle Vorlieben, Kritik an Kirchen oder anderen gesellschaftlichen Autoritäten, religiöse Überzeugungen jenseits der Bibel. Und viele Meinungen, die heute selbstverständlich Gehör finden, galten damals als unmaßgeblich: die von Frauen und Minderheiten zum Beispiel.

Verändert haben sich nicht nur die Erwartungen an die Meinungsfreiheit, sondern auch das Diskursklima und die Empfindlichkeiten. Zu den Zeiten, als „Winnetou“-Filme mit Pierre Brice in der Hauptrolle gedreht wurden, hätte keiner verstanden, warum heute eine Grünen-Politikerin riskiert, an den Marterpfahl gestellt zu werden, weil sie als Kind davon geträumt hat, „Indianerhäuptling“ zu sein.

Wo ein Mangel an Gespür für anderer Menschen Feingefühl, schlichte Respektlosigkeit oder die Lust an Provokationen auf „eine moralistisch-pädagogische Aufgescheuchtheit“ treffen, wie die „Süddeutsche Zeitung“ die Mentalität jener Eliten umschreibt, die sich im Besitz der richtigen Weltsicht wähnen, gerät die Meinungsfreiheit unter die Räder. Dieser Konflikt kann sich in Shitstorms entladen, in Parteiausschlussverfahren oder in universitären Aufwallungen mit dem Ziel, unliebsame Hochschullehrer ins akademische Abseits zu drängen, wie es der Politologe Herfried Münkler schon erfahren hat und sein Historikerkollege Jörg Baberowski noch immer erfährt. Engagierte Minderheiten maßen sich dann bisweilen an zu beurteilen, ob der AfD-Gründer Bernd Lucke, die Kabarettistin Lisa Eckhart oder gar der radikalen Ansichten völlig abholde Christdemokrat Thomas de Maiziere zu den Unpersonen zählen, denen sie gerne das Rederecht absprechen würden. Doch es es gibt kein Recht darauf, nur zu hören, was alle gerne hören möchten.

So berechtigt der Wunsch nach einer sensibleren Sprache ist, die niemanden ausschließt oder brüskiert, so problematisch erscheint es, wenn daraus ein verpflichtender Kodex abgeleitet wird und öffentliche Geißelung erfolgt, sobald jemand den schmalen und nicht in jedem Fall leicht zu erkennenden Pfad des akzeptierten Neusprechs verlässt – ob willentlich oder gar in provokanter Absicht, aufgrund mangelnden Gespürs, schieren Unwissens oder aus dem trotzigen Vorsatz, sich beim Sprechen nicht verbiegen zu wollen. Toleranz ist keine Einbahnstraße.

Damit wären wir bei der Frage, was die Meinungsfreiheit schützt, was sie gar befördert. Allzu strikte Sprachnormen und eine zum technokratischen Kodex verstümmelte Schreibweise jedenfalls nicht. Der britische Historiker Timothy Garton Ash, in Stuttgart mit dem Theodor-Heuss-Preis ausgezeichnet, warnt in diesem Zusammenhang vor einer „Tyrannei des Gruppenvetos“. Das gilt für den Anspruch auf ein formalisiertes Gendersprech ebenso wie für die Absicht, den Wortschatz gegen jeden Fehltritt zu verminen, für den sich eine vermeintlich rassistische oder kolonialistische Begründung finden ließe. Der Staat lässt nun allerdings mit Recht eine Art Sprachpolizei auf den Plan treten, wenn die Meinungsfreiheit nur als Deckmäntelchen für Hass dient. Diesen Zweck verfolgen Strafparagrafen gegen „verhetzende Beleidigungen“, diskriminierende und verunglimpfende Posts, wie sie der Bundestag zuletzt beschlossen hat. Das sind keine Verbotsschilder, um Diskussionen abzuwürgen. Es zwingt die Diskutanten aber zu einer zivilisierten Ausdrucksweise. Und das ist nicht nur gut so, sondern längst überfällig.

„Wir schätzen Menschen, die frisch und offen ihre Meinung sagen – vorausgesetzt, sie meinen dasselbe wie wir“, hat Mark Twain einmal geschrieben. Damit bringt er das Dilemma der Meinungsfreiheit auf den Punkt. Sie erfordert Zivilcourage, weil sie mit dem Risiko einhergeht, wegen anstößiger Meinungsbeiträge kritisiert oder auch beschimpft zu werden. Meinungsfreiheit umfasst allerdings nicht das Recht, Andersdenkende zu beleidigen oder gar zu bedrohen. Sie ist immer auch eine Zumutung. Sie setzt Respekt voraus, und die Einsicht, dass andere auch recht haben könnten – und manchmal tatsächlich auch haben. Sie verlangt also Toleranz im ursprünglichen Sinne des Wortes. Das bedeutet eigentlich: aushalten, ertragen. Wer Meinungsfreiheit reklamiert, muss es aushalten, dass andere anderer Meinung sein könnten – und diese ertragen.