Kinder katapultieren einen oft zurück in die eigene Kindheit, sagt unsere Kolumnistin. Dort findet man dann erschreckende Wahrheiten, wie die, dass man am ersten Schultag ein Kopftuch trug oder dass sich manches seit damals überhaupt nicht verändert hat.

Familie/Bildung/Soziales: Lisa Welzhofer (wel)

Stuttgart - Kinder sind ja ein bisschen wie Zeitmaschinen – und zwar vorwärts und rückwärts. Einerseits fühlt man sich mit Kindern sehr schnell sehr alt – und sieht auch so aus. Andererseits führen sie einen zurück in die eigenen Kindheit. Ständig ist man am Abgleichen. Wie war das bei mir damals? Wie haben es meine Eltern gemacht? Wie war ich selbst als Kind?

 

Als der Sohn beispielsweise vergangene Woche eingeschult wurde, also tatsächlich ganz analog und nicht nur digital, löste das bei mir eine Lawine der Erinnerungsbilder an meinen eigenen ersten Schultag aus, oder an das, was ich davon noch weiß. Plötzlich erschien meine Lehrerin Frau Deininger vor mir. Die trug wadenlange braune Röcke und einen grauen Dutt (also keinen lässig-nachlässigen Hipster-Knödel, sondern so einen mit viel Haarspray und Nadeln am Hinterkopf fixierten). Sie kam mir damals mindestens wie 90 vor, dabei war sie wahrscheinlich höchstens Mitte 50.

Das doofe orangene Kopftuch

Wir malten am ersten Schultag ein Bild mit einem Apfelbaum und uns selbst daneben. A, ein Apfel stand darüber. Die Banalität dieser Aussage hat mich schon damals ein bisschen gestört – na gut, zumindest würde ich mir in der Rückschau wünschen.

Ich habe mich gefragt, was ich wohl so gedacht und gefühlt habe an diesem Tag. Ob mir dessen Tragweite bewusst war, die Länge des Weges, der vor mir lag, die Möglichkeit von Erfolg und Scheitern, was beides eintreten sollte. Die theoretisch unbegrenzte Anzahl an Optionen, was aus mir werden könnte. Sehr wahrscheinlich nicht. Meine Gedanken drehten sich an diesem Tag vor allem um den Inhalt der Schultüte in meiner Hand und das sehr doofe Tuch auf meinem Kopf, das mir die Einschulungsbilder verdarb. Damals bekamen die Mädchen tatsächlich am ersten Tag ein orangefarbenes Kopftuch geschenkt, das sie für Autofahrer sichtbar machen sollte, während die Buben prima Schildmützen absahnten. Manches hat sich tatsächlich zum Guten gewendet in unserem Schulsystem.

Corona bremst Helikopter-Eltern

Apropos. Eine Erkenntnis, die sich recht schnell einstellt, ist, dass sich in 35 Jahren vieles nicht wirklich geändert hat im Leben eines Erstklässlers. Zum Beispiel sehen die Hefteinbände aus Plastik mit ihrem geriffelten Quadrat-Muster ganz genauso aus wie früher (gab’s zwischenzeitlich nicht mal Umwelteinbände aus grauem Recyclingpapier?). Und noch immer flutscht die Einbindefolie für die Bücher ständig durch die Finger hindurch. Es gibt nach wie vor eine Tafel, an die man vortreten kann, und an den Wänden hängt ein ABC. Und dank Corona wurden einige ungesunde Auswüchse moderner Elternschaft zumindest für den Moment kuriert: So gebieten die Hygienevorschriften überfürsorglichen Helikopter-Eltern ebenso Einhalt wie sie überbordende Einschulungsfeierlichkeiten verhindert haben.

Das ist die eine, die sentimentale Wohlfühlseite. Andererseits ist es aber auch ein bisschen erschreckend festzustellen, dass sich manches nun wirklich kaum verändert hat. Stichwort Digitalisierung. Weil dazu schon genug geschrieben wurde, nur so viel: Die eigene Digital-Stone-Age-Schulzeit mit den zwei ollen Computern in einem miefigen Raum scheint in manchen Schulen ja offenbar noch nicht wirklich überwunden.

Das gute Gefühl

Was bleibt also unterm Strich von dieser Zeitreise. Die Beruhigung, dass Schulmädchen heute auch coole Kappen bekommen. Die Erkenntnis, dass man Schulbücher einfach nicht ordentlich einbinden kann. Vor allem aber das gute Gefühl, dass die Schule noch immer ein Anfang von so vielem ist, über das sich das Kind noch gar keine Gedanken macht. Was für ein Glück!

Lesen Sie hier mehr aus der Kolumne „Mensch, Mutter“.

Lisa Welzhofer ist Autorin der Stuttgarter Nachrichten und Mutter zweier Kinder (6 und 3 Jahre alt). In ihrer Kolumne macht sie sich regelmäßig Gedanken über Familie und übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr. Sie schreibt im Wechsel mit ihrem Kollegen Michael Setzer, der als „Kindskopf“ von seinem Leben zwischen Metal-Musik und Vatersein erzählt.