Am Tag nach dem Angriff auf einen Familienvater tauchte der Hauptverdächtige vor der Klinik auf, in der das Opfer lag – zwei Polizisten erkannten ihn und sprachen ihn an. Seine Erklärung konnten sie kaum glauben.

Rems-Murr: Phillip Weingand (wei)

Plüderhausen/Stuttgart - Der 20-Jahre alte Amir W. galt im Juli 2018, nach dem Messerangriff auf einen Familienvater in Plüderhausen, schon früh als Tatverdächtiger – jedoch nicht als einziger, wie am Dienstag vor dem Landgericht Stuttgart klar wurde. Das 53 Jahre alte Opfer hatte den Angreifer zwar als „vermutlich Afghane“ und als bärtig beschrieben. Da er den Ex-Freund seiner Tochter aber nur flüchtig kannte, hatte er ihn bei dem nächtlichen Angriff nicht eindeutig erkannt. So kam es, dass W. zwar schon wenige Stunden nach der Tat von zwei Polizisten frisch geduscht und glatt rasiert in Gewahrsam genommen wurde – aber schon kurz darauf wieder auf freiem Fuß war.

 

Der Hauptverdächtige taucht plötzlich vor der Klinik in Schorndorf auf

Vor dem Rems-Murr-Klinikum in Schorndorf, wo der 53-Jährige wegen seiner schweren Schnittverletzungen behandelt wurde, kam es am Tag darauf zu einer skurrilen Situation: Zwei Polizeibeamte erkannten W. und sprachen ihn an. Dieser erzählte ihnen, im Krankenhaus einen Freund besuchen zu wollen. Dieser existierte tatsächlich – und er war im Zimmer gegenüber dem des Opfers untergebracht. Da die Personenbeschreibung auch auf ihn zutraf und er Verletzungen hatte, von denen die Polizisten glaubten, sie hätten bei dem Angriff entstanden sein können, galt auch er vorübergehend als verdächtig.

Schon beim Prozessauftakt hatte W. gestanden, die Beweise gegen ihn wiegen schwer. Wie aus dem schüchternen jungen Mann ein Gewalttäter werden konnte, der dem Vater seiner Exfreundin zentimetertiefe Wunden zufügte, bleibt bislang unklar.

W. war rund anderthalb Stunden Autofahrt von der afghanischen Stadt Dschalalabad entfernt, als ältester von sieben Geschwistern, zur Welt gekommen. Er besuchte eine Privatschule in der Stadt, begann eine Schneiderlehre. Doch weil sein Vater als Polizist mit dem US-Militär zusammengearbeitet hätte – so erzählte W. – hätten ihn zur Strafe die Taliban rekrutieren wollen. W. ergriff die Flucht. Seine Familie habe Schleppern 3000 US-Dollar bezahlt, mit deren Hilfe er über Pakistan und Iran zunächst in die Türkei gelangte. „Doch das Land war nicht so gut – auch, was die Arbeit betrifft“, erzählte er vor Gericht. „Mein Vater wollte, dass ich nach Deutschland gehe und einen Beruf lerne.“

Die Gastmutter hält noch immer Kontakt zu dem jungen Afghanen

Doch daraus wurde nichts. Statt dessen sitzt W. nun verschämt auf der Anklagebank des Landgerichts Stuttgart. Seine Familie hat den Kontakt zu ihm abgebrochen – „sie wollen nichts mehr von mir wissen, weil ich so deutsch geworden bin“, soll er seiner Gastmutter erzählt haben. Dass die Tätowierung, die er sich auf die Brust stechen ließ, die Karte Afghanistans zeigt, änderte nichts daran. „In Afghanistan gilt Alkohol trinken als schlimmer als eine Gewalttat“, erzählte seine Gastmutter. W. hatte vor Gericht allerdings erzählt, zum endgültigen Bruch mit der Familie sei es gekommen, nachdem der Messerangriff bekannt geworden war.

Der damals 17-Jährige war zunächst in einer Unterkunft im Schullandheim Mönchhof bei Kaisersbach untergekommen– er kam schon sehr bald, im Juni 2016, in die besagte Gastfamilie. „Wir haben ihn aufgenommen wie unser fünftes eigenes Kind“, erzählte die 46-Jährige. Ihre Nummer hatte W. als „Mama“ in seinem Handy gespeichert, mit seinen Gastgeschwistern verstand er sich gut. Als er in eine Wohngruppe des SOS-Kinderdorfs und dann in eine Obdachlosenunterkunft in Schorndorf zog, hielt sie den Kontakt. Auch heute noch besuchen die Gastmutter und die Kinder W. alle paar Wochen im Gefängnis in Stammheim.