Was sind die Grenzen des Menschlichen? Die Debatte um Machtmissbrauch, sexuelle Gewalt und Diskriminierung bestimmt auch die Filmfestspiele in Berlin. Schauspielerinnen wie Natalia Wörner und Anna Brüggemann sehen die ganze Gesellschaft in der Verantwortung.

Berlin - „Vorher essen!“, lautete die Empfehlung der Fernsehköchin Sarah Wiener an die Gäste der vielen Partys, die am Rand der Berlinale mit handlichen Snacks zu nicht unbedingt gesunder und unkontrollierter Nahrungsaufnahme verführten. Zu viel war manchem Gast der Berliner Filmfestspiele auch das Thema Metoo, das die Gespräche neben dem roten Teppich und auf etlichen Podien bestimmte.

 

Gegen diese Stimmen, die von der Debatte um Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt in der Filmbranche genervt sind, hat sich die Schauspielerin Jasmin Tabatabai (50) explizit gewandt. „Wie kann man eigentlich im Ernst sagen ,Ich kann’s nicht hören, wenn du mir von deinem Missbrauch erzählst‘?“, sagte Tabatabai („Letzte Spur Berlin“) am Montag am Rande der Berlinale. Genauso albern sei es, wenn Leute jetzt behaupteten, sie könnten Frauen keine Komplimente mehr machen oder hätten Angst, dass eine Meinungsdiktatur herrsche. Sie persönlich erlebe die Diskussion sehr differenziert, engagiert und mit unterschiedlichen Standpunkten.

Hilft ein schwarzer Teppich?

Schauspielerin Natalia Wörner (50, „Die Diplomatin“) wandte sich bei einer Podiumsdiskussion gegen einen fixen Regelkodex am Filmset. Das sei nicht umsetzbar, findet sie, weil es in künstlerische Prozesse hineinwirken würde. Mit Blick auf die Forderung, angesichts der Metoo-Debatte einen schwarzen statt eines roten Teppichs auszurollen, meinte sie: „Es ist unser Bewusstsein, das sich verändern muss - und nicht die Farbe des Teppichs.“ Motto der Diskussionsrunde im Tipi-Zelt war „Kultur will Wandel!“. Eingeladen hatten der Bundesverband Schauspiel, das Bündnis Pro Quote Film und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Kurz unterbrochen wurde die Runde durch die Störaktion einer Gruppe, die auf die Bühne kam und mit Zetteln sexuelle Gewalt durch Ausländer anprangerte - das Publikum reagierte mit Rufen wie „Nazis raus“.

Der Tenor auch bei anderen Metoo-Gesprächen während der Berlinale: Gut, dass darüber geredet wird - und: Die Diskussion muss über die Filmwelt hinausgehen. Klare Worte fand etwa Schauspieler Til Schweiger: „Es ist nicht nur in unserer Branche so. Es ist in jeder Branche so, wo Leute Macht haben über andere, wo Leute abhängig sind von anderen.“ Auch Schauspiel-Kollegin Karoline Herfurth sieht die gesamte Gesellschaft von der Metoo-Debatte betroffen: „Sie geht jeden was an.“ Schweiger nahm insbesondere die Betroffenen in den Blick: „Vor allen Dingen sollte man erstmal den Opfern glauben und sie nicht diskreditieren, nur weil sie 20 Jahre gebraucht haben, aus dem Trauma aufzuwachen und dann den Mut zu haben, danach an die Öffentlichkeit zu gehen.“

Frauen, die ihr Leben riskieren

„Nobody’s Doll“ (Niemands Spielzeug) nennt die Schauspielerin Anna Brüggemann ihre Initiative für Gleichberechtigung und gegen die klassische Rollenverteilung bei der Kleiderordnung auf dem roten Teppich; schon vor der Berlinale war sie ein großes Thema. Bei den Empfängen trugen viele Gäste den Anstecker mit dem Slogan, der wortwörtlich ins Deutsche übersetzt so viel heißt wie „Niemandes Puppe“. Kirsten Niehuus, Chefin des Medienboards Berlin-Brandenburg, hatte den Anstecker gut sichtbar an ihrer Halskette befestigt. „Ich kann mir vorstellen, dass das der Beginn eines langen Weges ist und den Marsch müssen wir gehen“, sagte sie bei einem Empfang, zu dem auch etliche Gäste in Turnschuhen, Jeans und Pulli kamen.

Die spanische Regisseurin Isabel Coixet hofft, dass die Metoo-Debatte zu einem gesellschaftlichen Wandel in vielen Ländern führt. „Ich verstehe die Metoo-Bewegung wirklich“, sagte die 57-Jährige, die bei der Berlinale ihren Film „The Bookshop“ vorstellte. Sie fände aber vor allem die jungen Frauen mutig, die etwa im Iran ihren Schleier abnehmen und fürchten müssen, deswegen im Gefängnis zu landen. „Lasst uns an die Frauen denken, die ihr Leben riskieren.“ Sie hoffe, dass die Metoo-Bewegung auch helfe, das Leben genau dieser Frauen zu verbessern.

Übergriffe aus dem Drehbuch

Auf den Podien der Berlinale geraten auch mögliche Täter ins Visier. So musste sich der südkoreanische Regisseur Kim Ki-duk zu den Gewaltvorwürfen äußern, die eine Schauspielerin gegen ihn erhoben hat. Eine Einladung, die im Heimatland Kim Ki-duks zu einem Sturm der Entrüstung geführt hatte. „Ich trage dafür die Verantwortung“, sagte der 57-Jährige am Samstag. Er erklärte zugleich, dass es sich bei dem „bedauerlichen Vorfall“ um ein vier Jahre zurückliegendes Ereignis handele. „Es war vor langer Zeit.“ Und es gebe unterschiedliche Beurteilungen des Vorfalls.

Eine südkoreanische Schauspielerin hatte dem Regisseur vorgeworfen, sie bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Moebius“ 2013 mit Gewalt zu nicht im Drehbuch enthaltenen Sexszenen gezwungen zu haben. Festivaldirektor Dieter Kosslick hatte im Vorfeld der Berlinale darauf hingewiesen, dass ein koreanisches Gericht den Vorwurf der sexuellen Nötigung mangels Beweisen zurückgewiesen habe. Deshalb habe die Berlinale-Sektion Panorama sich entschieden, nicht in eine Vorverurteilung zu gehen, sondern Kim Ki-duks aktuellen Film „Human, Space, Time and Human“ zu zeigen, der mit drastischen Bildern Gewaltexzesse inszeniert: Der Regisseur stellt die Reise einer Gruppe auf einem ehemaligen Kriegsschiff dar, bei der sich die Beteiligten binnen kürzester Zeit in menschliche Bestien verwandeln. Vergewaltigungen, Mord und Kannibalismus sind in diesem Mikrokosmos ohne zivilisierte Regeln Normalität. „Was sind die Grenzen des Menschen? Diese Grenzen wollte ich in einem Film darstellen“, erläuterte der Regisseur, der sich ausdrücklich bei der Berlinale für die Einladung bedankte. 2004 hatte er den Silbernen Bären für „Samaria“ gewonnen. 2012 wurde ihm in Venedig der Goldene Löwe für „Pieta“ verliehen.

Neue Beschwerdestelle für Opfer

Regisseur Tom Tykwer, der der sechsköpfigen, internationalen Berlinale-Jury vorsitzt, begrüßte die Einbindung der Metoo-Debatte in das Festoval. Es sei gut, „dass die Debatte nicht künstlich befeuert und genauso wenig unterbunden wird“, sagte er in Berlin. Es sei aber auch klar, dass es nicht nur um die Filmbranche gehe, sondern generell um das Miteinander in der Arbeitswelt. Tykwer zufolge ist es nun wichtig, sich von einzelnen Fällen zu entfernen und das Thema „sachlich“ zu behandeln.

Immerhin: In der deutschen Filmbranche soll es demnächst erstmals eine Beschwerdestelle für Opfer sexuellen Missbrauchs geben. Nach Angaben des Bundesverbands Schauspiel soll die neue externe Beschwerdestelle für die Opfer von sexuellem Missbrauch und Diskriminierung voraussichtlich Anfang März ihre Arbeit aufnehmen. Ziel sei es, mittel- bis langfristig einen Kulturwandel und eine Bewusstseinsbildung für eine gewaltfreie Arbeitskultur zu schaffen. Hinter der Beschwerdestelle stehen mehr als zwölf Berufs- und Branchenverbände, darunter die Deutsche Filmakademie, die Deutsche Fernsehakademie und der Bundesverband Regie.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) unterstützt die Aufbauphase mit bis zu 100.000 Euro aus ihrem Etat. „Die Einrichtung einer Anlaufstelle, an die Betroffene sich vertrauensvoll wenden können, ist das Mindeste, was Opfer sexueller Gewalt oder Belästigungen in der Film- und Kulturbranche erwarten dürfen“, erklärte sie. Von der Berlinale erwartet Grütters eine Signalwirkung in der Metoo-Debatte. Das asymmetrische Machtverhältnis am Filmset habe „offensichtlich viele Missbrauchsfälle angehäuft, bevor es diesen Durchbruch öffentlicher Geständnisse gab“, sagte sie