Miley Cyrus ist zurück. Das Album „Endless Summer Vacation“ ist ein Manifest der Selbstermächtigung.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Wer Miley Cyrus sagt, muss auch Nick Cave sagen. Dieser reist in seinen monströs-morbiden Liedern gerne ins Herz der Finsternis, erzählt von Zweifelnden, Verirrten und Getriebenen. Er ist deshalb irgendwann auch bei Miley Cyrus gelandet und hat 2013 in einer surrealen Traumreise dieses Album vorweggenommen: Im zähen Songungetüm „Higgs Bosom Blues“ spielt er als Ich-Erzähler einen Mann, in dessen Visionen Robert Johnson mit dem Teufel um seine Seele streitet, während Miley Cyrus in Toluca Lake im Swimmingpool treibt.

 

Flucht in die hedonistische Seifenblase

„Endless Summer Vacation“, das neue Album von Miley Cyrus, könnte man als ein großartiges Spin-off dieser Nick-Cave-Szene interpretieren. Nicht nur, weil sich die inzwischen 30-Jährige auf aktuellen Fotos gerne im Bikini am Pool rekelt. Der Albumtitel entstammt dem Song „Rose Colored Lenses“, einer knuffigen Indiepop-Nummer, die von der Flucht in eine Fantasiewelt handelt, in der nicht nur der Sommer, sondern auch die Liebe niemals endet („Endless summer vacation / Make it last till we die“).

Der Synthiepop-Dancetrack „Handstand“ träumt davon, sich selbst für immer in einer hedonistischen Seifenblase zu vergessen. Und auch in der Herzschlagballade „Island“ geht es um einen Sommer, der niemals endet, um Eskapismus, aber auch darum, dass Sonne, Strand und Sex einen nicht vor der Schwermütigkeit bewahren können.

„Endless Summer Vacation“ ist nicht nur eine Vorschau auf einen schwülen Sommer voller erotischer Abenteuer. Das Album ist auch ein Manifest der Selbstermächtigung. Die erste Single „Flowers“, die schon vor Monaten alle Streamingrekorde gebrochen hat, gibt den Ton vor. Dieser clever-schlichte Disco-Ohrwurm, der sich den trotzigen Duktus von Taylor Swift borgt, gleicht einem störrischen Akt der Selbstvergewisserung: Beim Abschied gibt Cyrus ihrem Ex mit auf den Weg, dass sie ihn nicht braucht, dass sie sich selbst Blumen schenken kann und dass sie sich selbst viel besser lieben kann, als er jemals dazu in der Lage war.

Manifest der Selbstbestimmung

Zwischen vom Country beseelten Songs über gescheiterte Beziehungen („Jaded“), in Elektropop verpackten Rollenspielen („Wildcard“) und in R’n’B getunkten Balztänzen („Violet Chemistry“) lauern lauter Selbstbehauptungshymnen. Der grimmige Indierocker „Muddy Feat“ etwa, bei dem Cyrus’ Stimme betörend-kratzig dröhnt, wenn sie ihren Lover aus dem Bett wirft und vor die Tür setzt („Get thе fuck out of my head with that shit / Get the fuck out of my bеd with that shit“). Und selbst das Liebeslied „You“, der beste Song auf „Endless Summer Vacation“, ist im Herzen ein Bekenntnis zu sich selbst und den eigenen Fehlern („I got some baggage, let’s do some damage“).

Miley Cyrus’ Biografie war aber schon vor diesem Album vom Versuch der Selbstermächtigung geprägt. Die Frau, die einst als Hannah Montana in jedem US- Kinderzimmer zu Hause war, inszenierte sich eine Zeit lang als groteske Männerfantasie. Bei den MTV Video Music Awards 2013 erschütterte sie die Welt in den Grundfesten mit unzüchtigen Tanzeinlagen, heraushängender Zunge und fleischfarbenem Bikini.

Die Frau, die nicht mehr Vorbild sein wollte

Noch vulgärer als die Obszönitäten, die sich der ehemalige Kinderstar damals leistete, noch fragwürdiger als Miley Cyrus’ Bemühungen, ihre Teenager-Rebellion als gerade volljährig gewordene Frau nachzuholen, war der Aufruhr darüber. Ihr wurde scheinheilig vorgeworfen, dass sie ein schlechtes Vorbild für Kinder sei. Sie wurde dafür verurteilt, dass sie nicht mehr die Rolle des süßen, vernünftigen Teenagers spielen wollte, den sie fünf Jahre lang für den Disney-Konzern gemimt hat. Das Austesten und Überschreiten von Grenzen wurde ihr verboten. Miley Cyrus hat das nicht gekümmert, und das ist gut so. Schließlich folgte sie mit ihren aufgesexten Provokationen einer langen popkulturellen Tradition, die Künstlerinnen wie Debbie Harry, Grace Jones, Madonna und Lady Gaga lange vor ihr – ästhetisch etwas konsequenter – umgesetzt haben.

Strategische Hemmungslosigkeit

Die angebliche Hemmungslosigkeit von Miley Cyrus erscheint jedenfalls im Rückblick wie eine strategisch perfekt geplante Inszenierung: Erst der skandalöse Auftritt bei der MTV-Show, dann das „Wrecking Ball“-Video, in dem sie nackt durchs Bild schaukelt, und die obszönen Fotos, die wie das Video von Terry Richardson stammen, der sich an einer Ästhetik zwischen Helmut Newton und Richard Kern versucht. Und schließlich der Auftritt bei „Saturday Night Live“, bei dem Cyrus sich selbst als Skandalnudel verulkt.

All das stand am Anfang eines Akts der Selbstbefreiung, wie man ihn bisher im Popgeschäft nur selten erlebt hat. Dieser hat Miley Cyrus zu der beeindruckenden Frau und Musikerin gemacht hat, die sie heute ist, von der sie dann im „Endless Summer Vacation“-Finale in der Klavierballade „Wonder Woman“ singt: eine Frau, die sich von nichts und niemandem davon abbringen lässt, das zu machen, was sie will.

Miley Cyrus: Endless Summer Vacation. Columbia/Sony

Endless Summer Vacation Foto: Sony

Die wunderbare Welt der Miley Cyrus

Person
 Miley Cyrus wurde im November 1992 als Tochter des Countrymusikers Billy Ray Cyrus geboren. Mit 14 wurde sie durch TV-Serie „Hannah Montana“ berühmt und zum Teenageridol. Im Jahr 2013 brach sie gezielt mit provokanten Auftritten und frivolen Selbstinszenierungen sowie dem Album „Bangerz“ mit dem Image des braven, netten Mädchens von nebenan, das ihr bis dahin der Disney-Konzern aufgezwungen hatte.

Zahlen
 Miley Cyrus zählt auf Instagram rund 190 Millionen Follower, bringt es bisher auf sechs Nummer-eins-Alben. Sechs ihrer bisherigen Welttourneen waren komplett ausverkauft.

Musik-Event
 Begleitend zu dem Album ist seit diesem Freitag ab 19 Uhr beim Streamingdienst Disney+ der Konzertfilm „Endless Summer Vacation (Backyard Sessions)“ abrufbar. Dort gibt es Liveversionen von neuen Songs wie „Flowers“ und Gastauftritte wie den von Rufus Wainwright zu sehen und zu hören.