Ehemalige Schützlinge der Brüdergemeinde hoffen auf die Politik – und haben ein Vorbild.

Korntal-Münchingen - Am Sonntag hat eine kleine Gruppe ehemaliger Heimkinder in Korntal demonstriert. Sie versammelten sich in unmittelbarer Nähe zu einer Veranstaltung der evangelischen Brüdergemeinde, in deren Einrichtungen die Kinder zwischen 1950 und 1970 Opfer sexueller, physischer und psychischer Gewalt geworden sind. Erstmals forderten die Betroffenen öffentliche Entschädigungszahlungen. Sie sollen nach dem Vorbild der Alpenländer geleistet werden. Noch in diesem Monat soll es deshalb ein Treffen mit dem Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) geben. „Ich wünsche mir von der politischen Seite eine Unterstützung für die Entschädigungsleistungen“, sagt das ehemalige Korntaler Heimkind Angelika Bandle.

 

Ein bisschen mehr Rente

In Österreich erhalten die Betroffenen, die Opfer von Gewalt in Heimen wurden, seit 2017 eine Entschädigung. Mit dem Erreichen des Rentenalters bekommen sie monatlich 300 Euro. In der Schweiz würde über solche diese Zahlungen ebenfalls diskutiert, sagt Bandle. Sie begründet damit auch, welche Bedeutung das Treffen mit dem Minister hat. „Wir fordern eine Entschädigung für die entgangenen Bildungschancen.“ Die Opfer der Gewalt seien gesundheitlich so angeschlagen, dass sie dadurch um ihre Berufschancen gebracht worden seien. Ganz zu schweigen davon, dass man ihnen während der Heimzeit Bildung verwehrt habe, weil man stattdessen arbeiten musste. „Etliche der zwischen 40- und 50-Jährigen sind auf staatliche Leistungen angewiesen oder leben an der Armutsgrenze leben.“ Bandle ist Sprecherin der seit 2018 bestehenden Selbsthilfegruppe Heimopfer Korntal.

Keine Standards für die Aufarbeitung

Es gehe ihr nicht darum, abermals den Aufklärungsbericht zu diskutieren, stellt Bandle klar. Zwei Aufklärer hatten den Bericht im Sommer 2018 vorgelegt – vier Jahre, nachdem die ersten Vorwürfe von physischer, psychischer und sexueller Gewalt in den Kinder -und Jugendheimen der pietistischen Gemeinde laut geworden waren. Die Suche nach einem Aufklärer war schwierig gewesen, ein erster Anlauf zur Aufarbeitung gescheitert. Letztlich verpflichtete sich die Brüdergemeinde zu Zahlungen von bis zu 20 000 Euro pro Opfer, um das Leid anzuerkennen, das den Heimkindern bei der Brüdergemeinde zugefügt worden war. Die Taten selbst waren in den meisten Fällen juristisch verjährt. Das Verfahren war auch deshalb schwierig, weil es bundesweit keine Standards für eine Aufarbeitung gibt. Sie werden erst erarbeitet.

Wie an das Geschehen erinnern?

Auch wenn der Bericht inzwischen vorliegt, ist die Aufarbeitung der Korntaler Geschehnisse nicht abgeschlossen. Die Betroffenen fordern eine Erinnerungskultur ein. Unklar ist, wie dauerhaft an die Gewalt in den Einrichtungen erinnert werden soll.

An einer Erinnerungskultur ist auch dem Bürgermeister Joachim Wolf gelegen. Keine kommunale Behörde habe im Missbrauchsskandal Schuld auf sich geladen, betont er. „Das haben wir untersucht.“ Gleichwohl verhehlt er nicht, dass das Image der Stadt in den vergangenen Jahren gelitten habe. Man spreche nicht mehr länger vom „heiligen Korntal“. „Man verbindet Korntal heute mit dem Missbrauchsskandal. Umso wichtiger ist mir ein guter Umgang mit der Aufarbeitung.“