Einer unabhängigen Kommission zufolge haben sich seit 1950 bis zu 3200 französische Katholiken des Missbrauchs schuldig gemacht. Insider gehen davon aus, dass sich die Zahl der Opfer sogar auf 10 000 belaufen könnte.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Paris - Unter Anleitung des Spitzenfunktionärs Jean-Marc Sauvé haben 22 Pädagogen, Psychologen, Juristen unter Ausschluss von Klerikern mehr als zwei Jahre Archive durchforstet und Zeugen angehört. Sie redeten mit 250 Opfern, führten 3600 Telefongespräche und werteten 2800 Briefe aus, um dem Missbrauchsskandal in Frankreich aufzuarbeiten. Als sich unter den französischen Katholiken herumsprach, dass die Kommission wirklich unabhängig handelte, fassten sich viele Opfer ein Herz, erstmals überhaupt über das Geschehene zu berichten.

 

Die Bilanz der Untersuchung, die an diesem Dienstag vorgestellt wird, ist erschreckend: Seit 1950 sollen sich zwischen 2900 und 3200 Kirchenleuten sexueller, zumeist pädokrimineller Vergehen schuldig gemacht haben, wie Sauvé vorab bekannt gab. Zur Zahl der Opfer machte er keine genauen Angaben, Eingeweihte schätzen, dass es sogar 10 000 sein könnten. Das Ausmaß läge damit in etwa doppelt so hoch wie in Deutschland, wenn man die sogenannte MHG-Studie zum Missbrauch in Deutschland aus dem Jahr 2018 heranzieht (1670 Täter, 3677 Opfer).

Die Mitglieder waren erschüttert

Erschüttert waren die Mitglieder der von der französischen Bischofskonferenz einberufenen Kommission nicht nur über die Zahlen. „Wir waren mit einer Welt des Sadismus, des Irrsinns und der Perversion konfrontiert, die man nie für möglich gehalten hätte“, sagte Kinderschützerin Alice Casagrande. Die meisten Kommissionsmitglieder mussten selbst betreut werden, um die Schilderungen zu verkraften. Sauvé bezeichnet den 2000-seitigen Bericht als „ungeschminkt“.

Nach ähnlichen Berichten aus Irland, Deutschland, Australien und den USA konnte die katholische Kirche die Augen allerdings nicht weiter verschließen. Auslöser war der Fall des Lyoner Erzbischofs Philippe Barbarin, der einen pädophilen, heute verurteilten Priester mutmaßlich gedeckt hatte.

Sauvé sagt, die katholischen Kirche habe ihre Lehren aus dem Skandal gezogen. In den 50er und 60er Jahren habe sie die Beschwerden ignoriert, später meist weggeschaut. Seit der Barbarin-Affäre habe sie jedoch eine Anlaufstelle und eine Internetseite für Opfer pädokrimineller Kirchenleute eingerichtet.

Ob der Untersuchungsbericht strafrechtliche Folgen für einzelne Täter hat, hängt von den Opfern ab. Viele Fälle sind verjährt. Davon zeugt ein neues Buch von Priester Patrick Goujon, der in seiner Kindheit von einem Abt missbraucht worden war. Offenbar wegen seines unbewussten Selbstschutzes erinnerte er sich mit 48 Jahren an alles. Doch da waren die Taten verjährt.

Pariser Medien warfen die Frage auf, ob man bei 3000 Tätern – also knapp drei Prozent der 115 000 französischen Priester – über einen Zeitraum von 70 Jahren noch von Einzelfällen sprechen könnte. Kommissionspräsident Sauvé erklärte, dass die Kirche als Ganzes in der Verantwortung stehe.

Fonds für Opfer wird eingerichtet

Mit päpstlicher Billigung will die französische Bischofskonferenz noch im Herbst ein kirchenrechtliches Strafgericht für pädokriminelle Delikte schaffen. Für die Opfer richtet sie einen Fonds von fünf Millionen Euro ein, der laut der Bischofssprecherin Karine Dalle je nach den genauen Opferzahlen des Berichtes auch noch höher ausfallen könne.

Der Vorsteher eines Opferverbandes, François Devaux, äußerte sich skeptisch, ob die Kirche wirklich bereit sei, ihre „unglaubliche Mechanik des Schweigens“ zu überwinden. Bis heute sei unklar, welchem Profil die Täter entsprächen und warum die Verjährungsfristen nicht verlängert würden.