Jeder will es haben, und für jeden soll es erschwinglich sein: Das schmuseweiche, federleichte und wohlig wärmende Teil aus Kaschmir. Ein Hauch von Luxus als preiswertes Massenangebot. Spitzenqualität ist allerdings deutlich teurer.

Stuttgart - In allen großen Bekleidungshäusern werden sie angeboten: Ein Kaschmirpullover oder eine Weste für weniger als 100 Euro. Da muss man doch zugreifen. Aber wie ist dieser Preis möglich? Denn dafür kann man den Pullover nicht mal selber stricken. Isabelle Roche führt in ihrem Wollladen in der Sophienstraße auch Kaschmir, das 25-Gramm-Knäuel zu 16 Euro. Wie viel braucht man für einen Pullover? „300 Gramm“, weiß die Fachfrau für Handarbeit. Macht also insgesamt 192 Euro für ein edles Stück aus sechs- bis achtfädiger Wolle. Kaschmirwolle, die aus 60 der ganz feinen Fäden zusammengedreht ist, sei ideal für eine Mütze, meint Isabelle Roche: „Zwei Knäuel zu je 30 Euro genügen.“

 

Lieferant ist die Kaschmirziege, der das besonders feine Unterhaar ausgekämmt wird. Hier gilt: Je länger, je lieber. Werden kürzere Haare verwendet, erlebt man Ent-täuschungen wie mit dem Schal, der heftig pillt, also durch lauter Knötchen verunziert ist. Dabei war er doch sündhaft teuer. „Ja“, nickt Isabelle Roche, „man sieht es der Ware leider nicht an, aber es wird viel minderwertiges Material verwendet.“

Auch sie berichtet, was mittlerweile ein offenes Geheimnis ist: China versuche als Hauptlieferant mit allen Mitteln, die Produktion zu steigern, und verursache damit einen rasanten Qualitäts- und Preisverfall. Verwendet werde nicht nur kurzfädige Wolle aus dem Sommerfell der Ziegen, sondern sogar recycelte Wolle. Und einen gewissen Prozentsatz an Beimischung müsse man nicht einmal deklarieren. Stimmt: In der EU muss nach der Textilkennzeichnungsverordnung ein ausschließlich mit Kaschmir bezeichnetes Produkt einen Anteil von mindestens 85 Prozent Kaschmirwolle enthalten. Wird ein Kaschmiranteil versprochen, muss er mindestens 14,5 Prozent betragen. Nur Waren höchster Qualität dürfen die Bezeichnung 100 Prozent Kaschmir tragen.

In Italien sind die berühmtesten und exklusivsten Anbieter zu Hause

Eine Garantie für die Verwendung von langem Haar sind diese 100 Prozent bei der heutigen Massenproduktion zu Schleuderpreisen allerdings nicht mehr.

„Wir führen kein Kaschmirteil unter 200 Euro“, betonen Uli und Ulla Bühler vom Wollfachgeschäft Bühler (Schick in Strick). Ihre klassischen Rollkragen-Sweater und modischen Ponchos (für knapp 250 Euro) sind aus mongolischem Kaschmir und kommen vom irischen Hersteller Moraya und von Ermano aus Italien. Die Fachhändler für Wolliges betonen, dass sie sich traditionell im preiswerten Bereich bewegen, aber dennoch auf einen hohen Standard achten. „Waren für unter 100 Euro besitzen keine große Formstabilität und pillen, weil sich die kurzen Haare bald aus dem Strick herausarbeiten“, erklärt Ulla Bühler.

In Italien sind die berühmtesten und exklusivsten Anbieter wie Loro Piana und Bruno Cuccinelli zu Hause. Ihr Name ist Legende und weckt Sehnsüchte, die sich nur jene erfüllen können, die bereit sind, für Pullo-ver, Jacken, Mäntel hohe, sogar sehr hohe vierstellige Beträge zu bezahlen.

„Von kleineren Produzenten wie Malo und Settefili, die im Preis noch günstiger sind“, stammt laut Geschäftsführerin Regina Bräuning die Kaschmir-Kollektion, die das Pelzhaus Enssle in dieser Saison anbietet: Twinsets für 1200 Euro, eine raffinierte Jacke, die wie ein Cape fällt, für 960 Euro, Stolas, Ponchos und Herrenpullover im dekorativen Zopfmuster. Schwer angesagt sind ganz leichte und kurze Capes, die man einfach über den Kopf zieht: flatterige Seelenwärmer für drinnen. Die seidenweichen Twinsets aus einfädigem Kaschmir bestäti-gen auf den ersten Griff die alte Schneider-weisheit, dass man Schurwolle anfassen, Kaschmir aber streicheln kann.

Der Verfall von Qualität und Preis rückt Alternativen deutlich in den Blickpunkt. „Fühlen Sie mal“, präsentiert Ulla Bühler einen Pullover und lässt raten: „Was ist das?“ Auf jeden Fall himmlisch weich. Kein Kaschmir? „Nein, es ist Merinowolle, ge-mischt mit Opossumhaar“, verrät die Fachhändlerin das Geheimnis. Hergestellt in Christchurch, Neuseeland, wo die Beutelratte derart zur Plage geworden ist, dass ihre Dezimierung als Naturschutzmaßnahme gilt. „Dieses Haar ist um 30 Prozent wärmer als Kaschmir, weil es eine Hohlstruktur hat“, klärt Uli Bühler auf.

Bleibt als dritter alternativer Lieferant die Lama-Art Alpaka

Als neues Kaschmir propagiert wird mon-golische Kamelwolle aus der Wüste. Die Renaissance begann ebenfalls in Italien, wo das italienische Herrenlabel Caruso das „Gobigold“ verarbeitet und selbst Loro Piana dafür begeistern konnte. Auch der Ökoanbieter Grüne Erde setzt auf das Fell der Höckertiere aus der Wüste Gobi und lässt Ponchos, Pullover (150 bis 180 Euro) und Mützen fair in der Mongolei herstellen. Damit ist der Reichtum der Mongolei noch nicht erschöpft, denn auch das Yak-Rind liefert aus seinem Unterfell flaumweiche Wolle, die von Nomadenfamilien verarbeitet wird und bei Grüne Erde ausschließlich in Naturtönen, zum Beispiel als Schultertuch, erhältlich ist (169 Euro).

Bleibt als dritter alternativer Lieferant die Lama-Art Alpaka, die in den Anden zu Hause ist. Furore machen die dekorativen bunten Strickwesten aus Peru in traditioneller Mouliné-Machart, die einen fröhlichen Farbakzent setzen. Fair gehandelt und mit einer Spur Ethnolook, „der sehr beliebt ist“, bestätigt Ulla Bühler.

Bei Grüne Erde hat man sich von Kaschmir ganz bewusst verabschiedet. „Weil wir den Kunden garantierte Faser-Echtheit bieten wollen“, erklärt Pressesprecher Bernhard Lichtenberger.