Der ehemalige Krankenpfleger Niels Högel ist wegen 99-fachen Mordes angeklagt. Der Psychiater Karl-Heinz Beine versucht zu erklären, was in dem Mann vorgegangen sein könnte.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Herr Beine, können Sie erklären, warum ein Krankenpfleger seine Patienten tötet?

 

Darauf gibt es keine pauschale Antwort. Grundlegend für den individuellen Entwicklungsprozess bis zur Straftat ist das Zusammenwirken von Persönlichkeitseigenschaften und situativen Gegebenheiten. Aber kaum irgendwo ist das Aufdecken und Erkennen von Morden so schwierig wie im Krankenhaus. Hinzu kommt, dass wir Kliniken als absolute Schutzräume ansehen, also hier besonders arglos sind. Von Krankenpflegern und Ärzten werden solche Verbrechen am wenigsten erwartet.

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Tätern?

Sie haben eine noch stärker ausgeprägte Selbstunsicherheit, als sie in den helfenden Berufen ohnehin vorhanden ist.

Was ist für sie das Anziehende an dieser Arbeit?

Sie erwarten Aufwertung, Anerkennung, Wertschätzung bis hin zu Bewunderung, wenn sie einen solch aufopferungsvollen Beruf ergreifen. Damit wollen sie sich selbst aufwerten.

Mitleid lassen Sie nicht gelten als Tatmotiv?

Nein. Mitleid setzt das Wissen darüber voraus, dass Helfer wissen, was ein Patient wünscht. Mitleid setzt im weitesten Sinn eine Beziehung zu dem Menschen voraus, der vor mir liegt. Die Täter haben ihre Opfer in vielen Fällen gar nicht oder nur kurz gekannt. In keinem Fall hat ein Opfer den Wunsch geäußert, sterben zu wollen. Es spricht alles dafür, dass die Täter aus einer inneren Motivation gehandelt haben. Niels Högel hat bestimmt nicht aus Mitleid Notfälle provoziert, um sich anschließend als grandioser Retter zu gerieren. Dafür bekam er Lob und Anerkennung aus dem Kollegenkreis.

Gibt es bei der Personalauswahl Warnzeichen, die hellhörig machen können?

Beim gegenwärtigen Fachkräftemangel im Gesundheitswesen ist das natürlich schwierig. Nach meiner langjährigen Erfahrung würde ich nachfragen, wenn jemand erzählt, dass er schon immer Krankenschwester oder -pfleger oder Arzt werden wollte. Wenn ich den Eindruck hätte, dass jemand eine Krücke für sein Selbstwertgefühl braucht, würde ich das mit ihm offen besprechen. Das ist ja auch einer der Fehler: Mit Niels Högel hat niemals jemand gesprochen, obwohl er intern schon „Rettungsrambo“ hieß.

Welchen Einfluss haben die Arbeitsbedingungen darauf, ob jemand zum Täter wird?

Unter Zeitdruck und Stress steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Situation nicht die nötige Beachtung erfährt, sich einer auf den anderen verlässt. Das macht anfällig für Fehler und lässt vielfach nicht nach rechts oder links schauen. Die Arbeitsbedingungen begünstigen es, dass aus Einzeltaten Mordserien werden.

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Stuttgart - Patienten in der Klinik sind völlig arglos, aber durch den Zeitdruck des Personals oft auch schutzlos, sagt der Psychiater Karl-Heinz Beine. Umso wichtiger seien Kontrollinstanzen.