Geht’s eigentlich noch? Wer ein reales Tötungsdelikt, wie das im Stuttgarter Stadtteil Fasanenhof, filmt und ins Netz stellt, der verletzt jede Form von Anstand und Moral, sagt unser Redakteur Kai Müller.

Stuttgart - Ein Mensch wird auf offener Straße bestialisch getötet. Nicht irgendwo weit weg, sondern im Stuttgarter Stadtteil Fasanenhof, quasi direkt vor unserer Haustür. Es ist ein unfassbares Verbrechen. Doch schon bevor der mutmaßliche Täter gefasst ist, kursiert im Netz bereits ein Video der Tat und was noch schlimmer ist: ein Bild des blutüberströmten Opfers. Schaulustige haben beides ins Netz gestellt.

 

Aus unserem Plus-Angebot: Waldheimkinder sind Zeugen der Bluttat

Was ist eigentlich mit solchen Leuten los? Natürlich ist das Phänomen nicht neu. Immer wieder werden bei Unfällen Handys gezückt und drauflos fotografiert. Es ist erschreckend, dass im Netz keine Grenzen mehr zu gelten scheinen. Für ein bisschen Grusel und ein paar Klicks wird jede Anstandsregel bedenkenlos gebrochen. Das Video hat sich am Tag der Tat und danach bereits viral im Netz verbreitet. Ob es jemals gänzlich gelöscht werden kann, ist mehr als unsicher.

Dem Täter kein weiteres Forum geben

Es gibt Menschen, die von Zensur sprechen, wenn ein solches Video aus den Kommentaren unserer Facebook-Seite entfernt wird. Geht’s noch? Wenn gezeigt wird, wie ein Mensch getötet wird, gebietet es schon allein der Respekt vor dem Opfer und dessen Angehörigen, das Video zu löschen. Ethische Prinzipien verbieten die Verbreitung nicht nur mit Blick auf das Opfer. Der Täter verdient kein zusätzliches Forum für sein abscheuliches Verbrechen, das durch nichts zu entschuldigen oder zu rechtfertigen ist.

Lesen Sie hier: Das Video im Netz zu verbreiten, birgt Gefahren

Vielleicht sollten jene, die leichtfertig über Zensur schwadronieren, innehalten und sich folgende Frage stellen: Will ich selbst, dass ein Video von mir oder meinen Angehörigen verbreitet wird, wenn ich Opfer eines Verbrechens werde?

Hochladen bedient nur den Voyeurismus

Viele vergessen, dass die Verbreitung einen solchen Videos nicht steuerbar ist und sich schnell auch auf Smartphones von Kindern wiederfindet. Einige werden jetzt einwenden, dass man erst durch den Filmschnipsel und die Verbreitung im Netz den Täter so schnell habe festnehmen können. Das stimmt vielleicht, doch es obliegt der Polizei, dies zu bewerten und geeignete Maßnahmen einzuleiten.

Natürlich ist ein solches Video wertvoll, schließlich ist dort der Täter eindeutig identifizierbar. Das heißt aber auch, das Filmchen muss so schnell wie möglich den Ermittlungsbeamten zugänglich gemacht werden. Es kann vielleicht sogar Leben retten. Das Hochladen des Films ins Netz bedient nur den Voyeurismus. Für die Angehörigen des Opfers und dessen Freunde und Bekannte ist es eine Tragödie im realen und im digitalen Leben.

Kriminalitätsstatistiken sprechen eine anderen Sprache

Und welcher Sinn steckt hinter der Forderung: „Wir müssen die ungeschminkte Wahrheit ins Netz stellen“? Wer profitiert denn von dieser Wahrheit? Das Opfer? Sicherlich nicht. Der Täter? Der erhält vielleicht sogar noch Zuspruch und findet Nachahmer. Das Video ändert auch nichts an den Tatsachen. Der mutmaßliche Täter im vorliegenden Fall ist in Deutschland als syrischer Flüchtling registriert und womöglich unter falscher Identität unterwegs gewesen. Weder das Video noch das Foto des Opfers haben eine Recherche ausgelöst, noch hat es an dieser etwas geändert.

All zu gern sprechen wir davon, dass eine Verrohung der Gesellschaft festzustellen sei. Auch wenn die Kriminalitätsstatistiken eine andere Sprache sprechen, ist das Sicherheitsgefühl bei vielen Bürgern angeknackst. Ein derart monströses Tötungsdelikt wie im Fasanenhof weckt neue Ängste.

Im Netz wird jeder öffentliche Mord zu einer Gewalt-Orgie aus Posts, Tweets, Fotos und Videos. Bilder einer Hinrichtung wie im Fasanenhof geben dieser Spirale neuen Schwung. Dagegen kann jeder einzelne etwas tun. Er muss dafür lediglich auf ein paar Klicks und einige wenige Minuten Internetruhm verzichten.