Motörhead spielen in Ludwigsburg ein ausverkauftes Konzert, das Gerüchte über den schlechten Zustand von Sänger und Bassist Lemmy Kilmister bestätigt.

Ludwigsburg - Der charismatische Mann mit der finsteren Miene war noch nie der richtige Ansprechpartner, wenn man nach konstruktiven Lösungen für Probleme sucht. Ian Fraser Kilmister, allgemein „Lemmy“ genannt, ist ein kritischer Querdenker, ein Zyniker, ein Geist der stets verneint, jemand der Dinge sagt wie: „Acht Idioten an einem guten Tag. Sonst: neun. An einem schlechten Tag triffst du zehn Leute und einer wie der andere ist ein kompletter Vollidiot“.

 

Diese misanthropische Grundhaltung hört man auch dem schmutzig-fatalistischen Rock’n’Roll seiner Gruppe Motörhead und seiner Lyrik an, er liefert schwarzmalerische Diagnosen ohne Auswege: „Die Welt ist böse“, erklärte er 2010 im Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“. Eine These, die ihm fünf Jahre später immer noch zwangsläufig erscheinen muss. Die Band verweilt gerade in Paris, als am 13. November die verheerenden Anschläge die Stadt erschüttern. Schlagzeuger Mikkey Dee plante einen Konzertbesuch der Eagles of Death Metal fest ein, verschlief aber im Hotel.

„Wir saßen vor dem Fernseher, als es passierte. Es wurde gefilmt und man konnte die Schüsse hören. Das ist dumm. Diese Leute sind so dumm! Was soll das? Denken die, dass sie zu Helden werden, wenn sie unschuldige Menschen töten? Arschlöcher! Feiglinge!“, berichtet Lemmy dem ZDF-Magazin „Aspekte“ mit einigem Bestürzen und einer Menge Wut. Am gleichen Wochenende hätte die Europa-Tournee der Band in Paris ihren Anfang nehmen sollen. Aus naheliegenden Gründen wird das Konzert abgesagt.

Horrende Ticketpreise auf dem Schwarzmarkt

Keine zwei Wochen später stehen er, Schlagzeuger Mikkey Dee und Gitarrist Phil Campbell, genannt „Wizzö“, vor einem treu ergebenen Publikum in Ludwigsburg. Die MHP Arena ist restlos ausverkauft, auf dem Schwarzmarkt vor der Halle werden horrende Summen ausgerufen. Der Andrang verdeutlicht – einmal mehr – die schier grenzenlose Ehrerbietung, die Lemmy in Hardrock- und Metal-Kreisen widerfährt. Meldungen über seinen zunehmend kritischen Gesundheitszustand, zahllose Konzert- und ganze Tourabsagen haben ihr übriges getan für die Hochstilisierung der einst obligatorischen Wintertour Motörheads zum wichtigen popkulturellen Event.

An Heiligabend wird der Engländer Kilmister, den man ob seines Lebenstils gerne als den letzten Überlebenden des aussterbenden Typus des Rockstars bezeichnet hat, 70 Jahre alt. Ein geradewegs biblisches Alter für jemanden, dem hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand schon oft ein frühzeitiges Ableben prophezeit wurde. Noch einmal Lemmy sehen: Zahllose Metalheads mit Bierbauch und Kutte pilgern zu einer der ikonischsten Figuren der Rockgeschichte. Die Angst, es könnte die letzte Chance sein, dem großen Helden live zu huldigen, ist in Fachgesprächen am Einlass, an der langen Schlange vor der Herrentoilette zwischen den Vorbands und an den Getränkeständen allgegenwärtig. Dass die Ängste nicht unbegründet sind, lässt sich nicht verneinen. Dazu später mehr.

Erst langweilige Vorbands ...

Zwei namhafte Supports der Metal-Historie verkürzen die Wartezeit: Die seit ihren Anfangstagen von Lemmy protegierte 80er All-Girl-Metal-Band Girlschool weiß mit poppunkigen Hardrocksongs eine halbe Stunde zu unterhalten, während der Auftritt der New-Wave-of-British-Heavy-Metal-Heroen von Saxon über weite Strecken Langeweile versprüht.

Obschon Sänger Biff Byfford gut bei Stimme ist und die klischeehaften Metal-Posen locker beherrscht, können die zahlreichen neueren Stücke nicht an die Bandstandards aus den 1980ern heranreichen. Das Publikum reagiert euphorisch, doch vermag auch das nicht darüber hinwegtäuschen, dass am Ende des lediglich Klassiker wie „Princess of the Night“ oder „747“ den exakt einstündigen Auftritt vor der völligen Belanglosigkeit bewahren können.

... dann Lemmy – leider kaum wiederzuerkennen

Drei Jahre liegt das letzte Motörhead-Gastspiel in Baden-Württemberg mittlerweile zurück. An gleicher Stelle begegnet dem Pubikum nun ein veränderter Protagonist. Stoisch steht er vor seinem wie immer etwas zu hoch positionierten Mikrophon, während sich über der Bühne ein stilisierter Weltkriegsbomber ruckartig bewegt. Tausende Zuschauer jubeln, im Innenraum wird in den ersten Reihen ausgiebig gepogt.

Alles wie immer, könnte man meinen. Doch deutlich zeigt sich, als die Band mit dem Klassiker „Bomber“ – einem jener ganz typischen, brachialen, ultraschnell gespielten Stücke Rock’n’Roll – das Konzert beginnt: Lemmy ist schwer gezeichnet. Augenscheinlich hat er massiv abgenommen. Seine schwarzen Röhrenjeans offenbaren über den schicken weißen Schuhen unerwartet dürre Beine, seine Stimme versagt immer wieder. Unbestreitbar hat er nicht nur an Gewicht verloren. Auch der Gesang wirkt dünner und das so markante, ruppige Bassspiel, das mit einer herkömmlichen Handhabung des Instruments nichts zu tun hat, gerät deutlich sanfter.

„Metropolis“ vom fast kanonischen Album „Overkill“ ist dennoch ein erster Höhepunkt. Der Sound ist mies abgemischt. Immerhin braucht es für jene harte Spielart bluesigen Rock’nRoll, die niemand so beherrscht wie Motörhead, auch keine akustischen Höchstleistungen. Unfassbar laut ist es sowieso. Lemmy blickt immer wieder zu seinem Gitarristen, lugt unter seinem Kavalleriehut hervor, bewegt sich nur vom Fleck, wenn seine beiden Mitmusiker zu ausgiebigen Soli ansetzen und er eine Verschnaufpause dringlich benötigt. Dann schlurft er langsam von der Bühne und wird mit umso lauteren Applaus bei seiner Rückkehr wieder begrüßt.

Der letzte Zechpreller

„The Chase Is Better Than the Catch“ vom Überalbum „Ace of Spades“ ist nach einem mehrminütigen Gitarrensolo der bestmögliche Anschluss und ein besonders gutes Exempel für all die Faktoren, die den legendären Motörhead-Sound ausmachen: Tempo, Lautstärke, heiser bellender Gesang und ein bluesiges Knochengerüst im Kern. Passend anschließen kann direkt danach „Lost Woman Blues“. Lemmy, der nach eigener Angabe etwa eine halbe Flasche Whiskey am Tag trinkt, nuschelt unverständliche Ansagen mit der Grabesstimme des letzten Zechprellers der Stadt.

Jedes Wort wird bejubelt, und als mit „No Class“ dann laut Ansage „the first half of the last song“ folgt, wird klar, dass die letzten Minuten kollektiv genossen werden müssen. Crowdsurfer lassen sich über das Publikum treiben, Campbell wirbelt über die Bühne. Lemmy, der das Outlaw-Image eines Willie Nelson im Hard Rock etablierte, kündigt „the second half of the last song“ an. „Ace of Spades“, jenes Lied, das den Mythos Motörhead verkörpert wie kein zweites, ist der Höhepunkt vor den Zugaben „Whorehouse Blues“ und „Overkill“.

„You know I’m born to lose / And gambling’s for fools / But that’s the way I like it, baby / I don’t wanna live forever“, singt er mit immer wieder versagender Stimme in der trotzigen Verliererhymne, deren Zeilen ob seines Gesundheitszustands und des kürzlich zu beklagenden Todes des früheren Drummers Phil Taylor zunehmend präsent sind.

In Ludwigsburg sieht man Lemmy die angeschlagene Physis klar an, doch verbieten sich düstere Prognosen. Denn eine Pointe aus dem größten Motörhead-Hit galt noch immer im Kosmos des Ian Fraser Kilmister: „And don’t forget the joker“.

Lemmy hat stets mit hohem Einsatz gespielt. Der Sieger, ja der Überlebende war er am Ende trotzdem immer.