Der legendäre Pariser Nachtclub huldigt unverdrossen dem Image des Lotterlebens. Dabei ist die Show längst jugendfrei. Doch der Laden brummt auch im 125. Jahr. Das Geheimnis sind die langbeinigen Tänzerinnen.

Paris - Die Windmühlenflügel auf dem Dach wirken zerbrechlich. Doch das täuscht. Das Moulin Rouge ist unverwüstlich. Rund um den Pariser Nachtclub ist nichts mehr wie es war. Vorbei die Zeiten, da das Viertel am Montmartre als schillernder Sündenpfuhl Künstler aus aller Welt anzog. Wo einst die europäische Moderne heranreifte, Vincent van Gogh, Henri Toulouse-Lautrec und Pablo Picasso mit Prostituierten, Ganoven und Trunkenbolden hausten, leben heute „verwöhnte Kinder“ in Luxusappartements, wie es der Soziologe und Schriftsteller Philippe Meyer formuliert. Delikatessengeschäfte und Bioläden verdrängen Hostessen-Bars und Sex-Shops.

 

Aber das Moulin Rouge ist noch da. Auch wenn die verruchten Zeiten längst der Vergangenheit angehören, im kollektiven Gedächtnis leben sie fort. Die Sehnsucht nach dem alten, herrlich schmuddelig-romantischen, herrlich wilden Paris scheint größer denn je. Das Moulin Rouge, das am Sonntag den 125. Geburtstag feiert, bedient sie unverdrossen.

Die Tänzerinnen stoßen Lustschreie aus

Wie eh und je erklingt dort der Cancan, dieser bald 180 Jahre alte musikalische Protest gegen bürgerliche Scheinheiligkeit, einst der Gipfel der Ausgelassenheit. Zu den Tönen Jacques Offenbachs lassen Tänzerinnen Rauscheröcke fliegen, Hüften kreisen, stoßen Lustschreie aus, knipsen ein Dauerlächeln an, schlagen schließlich im Spagat krachend auf die Planken. Liedtexte wie „Danse, danse, Paris danse“ oder „Paris im Mai“ mögen anderswo schal klingen. Hier finden sie Gefallen. Das in Nostalgie schwelgende Publikum, das an gleichem Ort schon Frank Sinatra, Liza Minelli oder Charles Aznavour erleben durfte, spendet Szenenapplaus.

Zirkusnummern, die anderswo verschämt aus dem Programm genommen wurden, im Moulin Rouge leben sie fort. Da „kämpft“ noch immer die spärlich bekleidete „Jungfrau“ im Glasbassin mit Pythonschlangen, von denen mittlerweile bekannt ist, dass sie dem Menschen, wenn er sie halbwegs pfleglich behandelt, nichts zuleide tun. Männer gesellen sich im Piratenkostüm, Kolonialbeamtendress oder als exotische Wilde hinzu. Bauchredner und Jongleure treten auf. Im Foyer prangen noch immer die Lithografien, die Toulouse Lautrec dem von ihm so geschätzten Varieté vermacht hat. Auf einer kommt die legendäre Tänzerin Jane Avril zu Ehren, eine Python an der Seite.

Gazellen mit nicht enden wollenden Beinen

So sehr der Nachtclub verruchte Zeiten aufleben lässt, er selbst ist alles andere als verrucht. Die Schlitze in den Slips der Cancan-Tänzerinnen sind längst verschwunden. Auch sonst hält sich der erotische Reiz des „Feenzaubers“, so der Titel der Show, in engen Grenzen. Gewiss, rund 60 Gazellen ähnliche Geschöpfe erfreuen mit nicht enden wollenden Beinen und wohlgerundetem Busen nach wie vor zumal das männliche Publikum. Idealmaße, wohin das Auge schaut. Als „die schönsten Frauen der Welt“, präsentiert eine Sprecherin das Ensemble. Aber das perfekt synchronisierte, rasant vorwärts drängende Spektakel verbreitet dann doch eher die Aura konzentriert absolvierten Hochleistungssports. Von lustvoll-lasziver Spontanität keine Spur. Kinder ab sechs Jahren dürfen zugucken. Sittenwächter können sich entspannt zurücklehnen.

Hinter dem Schwerelosigkeit suggerierenden „Feenzauber“ steckt ja in der Tat auch Schwerstarbeit. Um Abend für Abend in zwei Shows vor jeweils bis zu 2000 Zuschauern den Schein des ewig Gleichen aufrechtzuerhalten, bedarf es einer perfekt geölten Maschinerie. Ein Rädchen hat ins andere zu greifen. Modernes Management verlangt das. Jean-Jacques Gailly, der 1998 als Geschäftsführer anheuerte, hat es eingeführt und dem damals vor dem Bankrott stehenden Haus neues Leben eingehaucht.

Cancan heißt: Erziehung zur Präzision

Das Training der Doriss Girls (mit Doppel-S), wie die nach der im August verstorbenen Stuttgarter Moulin-Rouge-Choreografin Doris Haug benannten Tänzerinnen heißen, ist Erziehung zur Präzision. Auf Zehntelsekunden genau hat jede an einem bestimmten Ort zu sein, eine bestimmte Pose einzunehmen. Die meisten der in klassischem Ballett Ausgebildeten schuften täglich mehrere Stunden im Fitnessraum. Alle haben sie sich verpflichtet, nicht mehr als zwei Kilo ab- oder zuzunehmen sowie Frisur und Haarfarbe allenfalls in Absprache mit der Unternehmensleitung zu verändern.

Die Logistik verlangt nicht minder entschlossenen Einsatz. Da sind Kostüme mit Straußenfedern zu bestücken. Fünf Kilo wiegt am Ende ein jedes. Tonnen von Schleifen, Pailletten und Bändern sind zu verwalten. Nicht zuletzt heißt es Champagner heranschaffen. 240 000 Flaschen werden im Moulin Rouge jährlich entkorkt.

Mit dem Geburtstagsfest am Sonntag dürften noch ein paar dazukommen. Womit das Moulin Rouge dem Wandel am Montmartre dann doch Tribut zollt. Champagner schlürfen die den einstigen Vergnügungshügel bevölkernden „verwöhnten Kinder“ von heute jedenfalls auch.